Das Bernsteinerbe
Barbarazweigen mochte es nicht liegen, dass ihre Laune sich zum ersten Mal seit der Abreise der Grohnert-Damen derart gebessert hatte.
»Ich wusste es doch gleich«, fuhr die Köchin fort, »nach einigen Wochen hier bei uns im Haus fügst auch du dich brav ein. Die Wirtin aus dem Grünen Baum hat einfach nicht richtig mit dir umgehen können. Kein Wunder, die hat sowieso keine Ahnung, weder vom rechten Wirtschaften noch vom Umgang mit dem Gesinde!«
Lina zögerte. Sie wollte nicht als Klatschmaul gelten. Also hielt sie besser den Mund und wartete, worauf Hedwig hinauswollte.
»So, wie ich es sehe, bist du hier in der Wohnstube eigentlich fertig, nicht wahr?« Prüfend wanderten die hellen kleinen Augen der Köchin von neuem durch den Raum. »Milla kommt hier gut allein zurecht. Bis Mittag wird sie den Tresor abgestaubt und die Leuchter poliert haben.«
Sie trat zu den Fenstern und lupfte eine der dünnen Gazegardinen, um einen Blick auf das Treiben in der Langgasse zu werfen. In der Hoffnung, endlich mehr zu erfahren, stellte Lina sich neben sie und sah ebenfalls hinunter. Obwohl es nicht einmal Mittag war, schien bereits wieder die Dämmerung anzubrechen. Vielleicht aber war es an diesem Morgen auch noch gar nicht richtig hell geworden. Durch die geschlossenen Fensterflügel drangen gedämpfte Laute. Die für Anfang Dezember ungewöhnlich dicke Schneeschicht auf dem Straßenpflaster sorgte dafür, dass es draußen erstaunlich leise zuging.
»Nach Barbara geht’s Frosten an, kommt’s früher, ist nicht wohlgetan«, verkündete Hedwig und wandte sich um.
»Barbara im weißen Kleid verkündet gute Sommerzeit«, ergänzte Lina.
Zufrieden sah die Köchin sie an. »Ich wusste gar nicht, dass du dich mit solchen Regeln auskennst.«
»Vergesst nicht, wo ich aufgewachsen bin.«
Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte Lina Stolz auf ihre Herkunft aus dem tristen Fischerdorf bei Pillau. Der Köchin entlockte es ein anerkennendes Schnalzen mit der Zunge.
»Die Kleine bleibt noch hier oben«, erklärte sie endlich. »Dich brauche ich unten.«
Sie klopfte Lina auf die Schultern. Enttäuscht stöhnte Lina auf. Eigentlich hatte das unerwartete Lob sie hoffen lassen, einmal etwas besonders Schönes tun zu dürfen. Nun aber würde sie wohl im Vorratskeller die Äpfel sortieren und die Krautfässer umrühren müssen.
»Schau nicht so finster.« Hedwig rüttelte sie am Arm, als müsse sie aufgeweckt werden. »Dazu gibt es keinen Grund.« Am liebsten hätte Lina empört widersprochen, doch Hedwig kam ihr zuvor: »Du musst mir bei etwas ganz Wichtigem helfen.« Verschwörerisch zog sie sie näher zu sich heran und wisperte: »Kannst du dich erinnern, wann wir zuletzt im Kontor die Regale gewischt haben? Ich denke, es wird höchste Zeit, dort für Ordnung zu sorgen.«
Erstaunt zog Lina die Stirn kraus. »Hat Egloff nicht was dagegen? Wenn die Schreiber an ihren Pulten arbeiten, stört die das doch bei ihren Geschäften.«
»Wer sagt dir, was im Haus zu tun ist: Egloff oder ich?« Hedwig verschränkte die Arme vor dem üppigen Busen und funkelte sie an. »Die verehrte Frau Grohnert hat mich zur Wirtschafterin bestellt und nicht den dürren Federkratzer. Ich entscheide, wann wo im Haus Staub gewischt wird und wann nicht. Wäre ja noch schöner, wenn ich mir da von diesem buckeligen Schreiberling reinreden ließe!«
Sie reckte das Kinn, um größer zu werden. Es sah so komisch aus, dass Lina ein Lachen unterdrücken musste, um Hedwig nicht vor den Kopf zu stoßen. Denn die neue Aufgabe war schließlich von ganz besonderem Reiz: Sie durfte mitten am Tag ins Kontor! Das hieß, das Allerheiligste des Singeknecht’schen Hauses zu betreten. Und nicht nur das: So streng Egloff dort unten auch herrschte, gewiss fand sich Gelegenheit, mit dem Liebsten heimliche Blicke zu tauschen! Im Stillen jauchzte Lina vor Freude.
»Also sind wir uns einig«, krächzte Hedwig. Mit geradezu leuchtenden Augen zählte sie die Aufgaben auf, die Lina im Kontor zu erledigen hatte. »Am besten nimmst du einen Eimer Wasser und wischst die Regale erst einmal feucht aus. Feucht heißt aber nicht nass, Kind!« Mahnend hob sie den Zeigefinger. »Gib ruhig auch einen Spritzer Zitronensaft ins Wasser. Diesen Luxus sollten wir den Regalen heute gönnen. Das vertreibt nicht nur die trockene Schreibstubenluft, das pflegt auch das Holz. Denk zudem an die Pulte und Fensterbänke. Die haben es ebenfalls bitter nötig, gewischt zu werden. Allzu oft vergisst der
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