Das Bernsteinerbe
nicht im Stich! Ob sie allerdings bis zum Christfest schon wieder da sein werden, weiß ich nicht. Schau nur aus dem Fenster, dann kannst du dir vorstellen, wie beschwerlich derzeit das Reisen ist. Aber bis zum Fest der heiligen Auferstehung unseres Herrn im nächsten Frühjahr werden sie gewiss wieder mit uns hier in der Langgasse sein. Bislang haben wir das noch jedes Jahr miteinander gefeiert.«
Insgeheim stöhnte Lina auf und fürchtete bereits den Frühjahrsputz, der angesichts der Rückkehr der Grohnert-Frauen fällig war. Sie hatte ohnehin nicht verstanden, warum sie bei dem Wetter so überstürzt aus der Stadt hatten fortgehen müssen. Da konnte Humbert Steutner ihr noch so viel von »Verrat« und »bösen Verdächtigungen« zuraunen und sie zudem an die nächtliche Prügelei von diesem Mathias erinnern. Deshalb ließ man doch nicht sein Hab und Gut im Stich und übergab das Kontor in die Hände seiner Schreiber! Je länger Carlotta und ihre Mutter weg waren, desto übler stand es um das Geschäft. Das zumindest hatte Steutner ihr so erklärt. Wahrscheinlich war er der einzige der drei Schreiber, der zu wirtschaften verstand. Gewiss würde er das auch im Sinne der Grohnert-Damen bewerkstelligen, dachte Lina stolz. Doch Egloff und Breysig, die ihm einiges an Jahren im Kontor voraushatten, wollten ihm das einfach nicht zugestehen. Sogar Lagervorsteher Schrempf durchkreuzte bei jeder sich bietenden Gelegenheit Steutners Anweisungen und schlug sich offen auf die Seite des mürrischen Egloff. Nicht einmal der gute Helmbrecht tauchte auf, um nach dem Rechten zu sehen und im Streitfall zu vermitteln. Dabei hatte sie immer gedacht, es läge ihm wirklich etwas an Magdalena Grohnert. O nein, durchzuckte sie ein furchtbarer Gedanke, damit war es wohl ein für alle Mal vorbei. Da gab es doch diese auffallend blonde Frau, mit der er sich letztens im Grafenkrug getroffen hatte. Lina fühlte einen Stich in der Brust, als gelte der Verrat ihr selbst.
»Was ist mit dir?« Forschend sah Hedwig sie an. Noch einmal zuckte Lina zusammen. Über ihren Gedanken hatte sie nicht darauf geachtet, was in der Wohnstube vor sich gegangen war.
»Was?«, fragte sie und fühlte sich ertappt. Wie töricht! Damit gab sie Hedwig erst recht einen Grund, mit ihr zu schimpfen.
»Habe ich es doch gewusst!« Hedwigs runde Augen funkelten. »Kaum passe ich einen Moment nicht auf, wirst du übermütig und träumst vor dich hin, statt weiter deine Arbeit zu tun.« Sie zwickte sie in die Wange. »Hast wohl wieder an deinen Liebsten gedacht, was?«
Lina holte bereits Luft, um eine schnippische Antwort zu geben, da bemerkte sie, dass die Köchin wohlwollend schmunzelte.
»Mädchen, Mädchen«, brummelte sie gutmütig. »Hoffentlich weiß der Bursche dich zu schätzen. Pass nur gut auf dich auf und lass ihn nicht zu früh gewähren. Deine Liebe soll er sich hart verdienen!«
Lina lief rot an.
»Schau nicht wie eine Kuh«, wies die gedrungene Grauhaarige sie barsch, aber dennoch herzlich zurecht. Sie musste sich ein wenig recken, um Lina ins Gesicht blicken zu können, die gut anderthalb Handbreit größer war als sie. »Du denkst wohl, ich war nie jung, was?«
Das Lachen auf ihrem faltigen Antlitz blieb. In den hellen, runden Augen aber meinte Lina eine Spur von Traurigkeit zu entdecken. Beschämt musste sie sich eingestehen, nie einen Gedanken an die mögliche Jugend der inzwischen mindestens fünfzig Jahre alten Köchin verschwendet zu haben.
»Ach, lassen wir das«, winkte Hedwig ab und sah erst Milla, dann wieder Lina an. »Denkt daran, ihr beiden, was ihr den Grohnert-Damen versprochen habt: vorerst kein Wort zu niemandem, dass sie abgereist sind. Tut einfach so, als wären sie unpässlich, falls jemand zu ihnen will, und ruft mich oder, wenn es sein muss, Egloff dazu. Verstanden?«
»Los, Kleines!«, forderte sie Milla nach einer kurzen Pause auf. »Hol unten in der Küche Wasser für die Zweige. Manch Törichter mag sich zwar einbilden, allein von Luft und Liebe leben zu können. Bei Zweigen wie diesen hier aber funktioniert das nicht. Da rührt sich ohne Wasser gar nichts, im Winter erst recht nicht.«
Hedwig wartete kaum ab, bis sich die doppelflügelige Tür hinter der Kleinen geschlossen hatte, da sagte sie zu Lina: »Du machst deine Sache hier oben sehr ordentlich.«
Das ungewohnte Lob weckte abermals Linas Verwunderung. Wenn das so weiterging, wusste sie gar nicht mehr, was sie von der Köchin halten sollte. Allein an den
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