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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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Carlotta rannte mit. Mit letzter Kraft zerrte sie am Stiefel, bekam endlich den Stoff der Hose zu fassen und riss daran. Ein hässliches Geräusch kündigte das Nachgeben der Fasern an. Sie verlor die Hoffnung, sich lange halten zu können.
    Überraschend hielt Mathias noch einmal an und blickte aus seinen dunklen, tief in den Höhlen liegenden Augen auf sie herunter.
    Ein seltsamer Schimmer darin brachte sie aus der Fassung.
    Eigentlich war das unmöglich, beschwor sie sich, nicht nach dem, was er gerade getan hatte. Ganz zu schweigen von dem, was er am Mittwoch Christoph zugefügt haben mochte. Verblüfft starrte sie ihn an. Er erwiderte ihren Blick.
    Eine Nacht vor vier Jahren, kurz vor Thorn, kam ihr in den Sinn. Damals hatte er sie ähnlich durchdringend angesehen. Sie spürte, wie ihr heiß wurde, trotz eisigen Schneegestöbers um sie herum. Um seinen Mund zuckte es, ein böses Lachen huschte darüber. Sofort hatte er sich wieder im Griff.
    Alles Trug!, schoss es ihr durch den Kopf, und sie erwachte aus der Starre.
    »Du elender Verräter!«, schrie sie. »Weit kommst du nicht. Du bist desertiert, wie ich an deiner Kleidung sehe. Was glaubst du, wie schnell dich die Kurfürstlichen wieder einfangen? Der Amtshauptmann drüben im Krug hat gleich seine Leute zusammen, dir hinterherzujagen. Heiligenbeil wirst du nicht einmal in der Ferne auftauchen sehen, schon haben sie dich. Erst recht, wenn ich erzähle, dass du gerade vor meinen Augen den armen Thiesler erschlagen hast. Und wahrscheinlich«, für einen Moment versagte ihr die Stimme, sie rang mit sich, bis sie wieder reden konnte, »und wahrscheinlich war das nicht dein erster Mord. Vor zwei Tagen hast du wohl auch Christoph etwas angetan. Warum sonst bist du auf der Flucht?«
    »Das glaubst du selbst nicht!«
    Ein seltsamer Laut entfuhr ihm. Erst hatte es den Anschein, er wolle seinem Rappen die Sporen geben und rücksichtslos davonpreschen. Dann aber besann er sich eines anderen und blieb stehen. Höhnisch verzog er abermals die Mundwinkel.
    »Dir wird der gute Amtshauptmann sofort Gehör schenken, meine Liebe. Doch wie willst du ihm erklären, dich bei Schnee und Eis ganz allein mit dem Studenten draußen herumgetrieben zu haben? Auf ein sittsames Verhalten lässt das jedenfalls nicht schließen. Oder aber der Gute ist dir viel näher gekommen, als dir lieb war, und du hast ihm einen Stoß versetzt. Wenn ich mir das Blut an deinen Händen und deiner Kleidung anschaue, scheint mir das der Wahrheit doch am nächsten zu kommen. Schließlich kennen wir alle dein Temperament.«
    »Treib es nicht zu weit, mein Lieber!« Sie fasste das Pferd an den Zügeln. Plötzlich stand ihr sein Gesicht vor Augen, als sie sich vor Hieronymus Roths Haus wiedererkannt hatten. Ja, nun wusste sie, was ihn endlich von seinem hohen Ross herunterholen würde. Schon hörte sie sich laut sagen: »Was wird deine Mutter nur denken, wenn sie die Wahrheit erfährt: Ihr Sohn ist nicht nur ein entlaufener Soldat, sondern auch ein gemeiner Mörder!«
    Das letzte Wort schleuderte sie ihm regelrecht von unten herauf zu. Erschrocken tänzelte der Rappe auf der Stelle, schüttelte die Mähne und schnaubte. Dampfwolken stiegen aus den Nüstern in die kalte Luft auf. Mathias’ Gesicht verdunkelte sich, das böse Lächeln auf seinen Lippen erstarb.
    »Carlotta!« Von der Lischke her klang Magdalenas Stimme herüber. »Wo steckst du nur?«
    Insgeheim sandte Carlotta ein Dankgebet gen Himmel. Selten hatte das Auftauchen der Mutter sie derart gefreut.
    »Hier bin ich!«, rief sie. »Schnell, hilf mir! Es ist etwas Furchtbares geschehen!« Ihre Finger klammerten sich fester um das Leder der Zügel.
    Mathias aber machte keinerlei Anstalten zu fliehen. Ruhig sah auch er Magdalena entgegen. In mühsamen Schritten stapfte sie durch den knöcheltiefen Schnee auf sie zu. Wieder setzte das Bellen der Hunde ein. Am Kirchturm begann das Mittagsläuten. Damit kam Leben in das eben noch wie ausgestorben liegende Dorf. Dickvermummte Gestalten schlurften aus den Häusern.
    Mathias und Carlotta wechselten einen Blick. Sosehr der Hass in ihr gärte, so einig waren sie sich dennoch in der Einschätzung der Lage: Es war nur eine Frage von Augenblicken, bis der Erste den toten Thiesler im Schnee entdeckte. Wem von ihnen beiden würde es gelingen, seine Sicht der Dinge glaubhaft zu machen? Als könne er ihre Gedanken lesen, schob Mathias mit der rechten Hand den Mantelschoß zurück. Wie zufällig wurde die Pistole an

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