Das Bernsteinerbe
blonde Dame aus dem Grafenkrug wenige Augenblicke später im Eingang zum Kontor.
»Darf ich stören?«, fragte sie und machte bereits die ersten Schritte hinein. Suchend sah sie sich in dem langgestreckten Raum um, schlug die Kapuze ihrer kobaltblauen Heuke zurück und streifte sich die Handschuhe ab. Ihr Anblick verwandelte die Schreiber zu Salzsäulen. Breysig glotzte mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen, Egloff war mit halb erhobener Schreibfeder in der Hand erstarrt. Selbst Humbert Steutner scharrte nicht einmal mit den Füßen, sondern stierte ebenfalls zu der weißblonden Schönheit.
Diese überging das ungebührliche Betragen, als wäre nichts.
»Ich möchte die Dame des Hauses sprechen. Ist sie heute nicht im Kontor?« Abermals wanderte ihr Blick durch den Raum. Dabei entdeckte sie Lina oben auf der Leiter, lächelte und winkte ihr zu. Lina rang mit sich, ob sie das Lächeln erwidern sollte. Die Treue Carlotta und ihrer Mutter gegenüber verbot es. Ungeheuerlich von der Fremden, am helllichten Tag in das Haus der Grohnerts zu kommen, fand sie. Unverwandt sah sie von oben auf sie hinab. Andererseits wirkte die Dame nicht im Geringsten aufdringlich oder gar unverschämt, sondern hatte im Gegenteil sogar ein sehr angenehmes Auftreten.
»Hat es Euch allen die Sprache verschlagen?« Noch immer lächelnd, sah die Blonde direkt zu Egloff. »Was ist geschehen?«
Verlegen hüstelte der alte Schreiber in die Faust, während er nach den richtigen Worten suchte. »Die verehrte Frau Grohnert ist vorübergehend nicht zu …«, setzte er umständlich an, um sogleich ungeduldig von der Fremden unterbrochen zu werden: »Dann stimmt es also? Sie ist tatsächlich aus der Stadt geflohen?«
In den blauen Augen stand auf einmal blankes Entsetzen. Aufgebracht schleuderte sie die Handschuhe zu Boden und stampfte zornig auf. Im nächsten Augenblick wurde sie sich ihres Fehltritts bewusst.
»Entschuldigt vielmals«, sagte sie leise. Beflissen bückte sich Egloff nach den Handschuhen und reichte sie ihr mit einer angedeuteten Verbeugung. »Es ist nur, ich weiß nicht, ob ich das für besonders klug …«, stammelte sie und wischte sich über die Stirn, als hätte sie die Aufregung ins Schwitzen gebracht. Sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte sie für besonnener gehalten«, erklärte sie schließlich wieder völlig ruhig. »Das wird Dorothea Gerke und die anderen nur bestärken. All die bösen Unterstellungen scheinen damit bestätigt. Ach, wie konnte sie nur!«
Fassungslos legte sie sich die Hand auf die glatte Wange. Egloff versuchte, sich durch ein weiteres Hüsteln bemerkbar zu machen. Doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Ruft mir bitte die Tochter des Hauses. Sie wird wohl zu sprechen sein. Wir hatten zwar noch nicht das Vergnügen miteinander, doch es ist wirklich dringend. Unbedingt muss ich jetzt sofort mit ihr reden.«
Sie biss sich auf die schön geschwungenen, dunkelrot bemalten Lippen. Lina war sich sicher, nie zuvor eine so vollkommene Frau aus der Nähe gesehen zu haben. Insgeheim begann sie zu verstehen, warum Helmbrecht von dieser Dame begeistert war. Sie war so völlig anders als die verehrte Frau Grohnert. Unsinn!, schalt sie sich im nächsten Moment. So etwas durfte sie nicht denken. Die Fremde war dabei, die arme Magdalena ins Unglück zu stürzen!
Eisige Stille breitete sich im Kontor aus. Die Schreiber wechselten verzweifelte Blicke.
»Ich bedauere«, katzbuckelte Egloff schließlich vor der Fremden, die seinen Einwand jedoch gründlich missverstand und hastig dazwischenfuhr: »Oh, verzeiht, Ihr habt natürlich recht. Heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein, wem man traut. In all der Aufregung habe ich vergessen, mich vorzustellen: Mein Name ist Leuwenhoeck, Marietta Leuwenhoeck, Kaufmannswitwe aus Brügge und auf Empfehlung des verehrten Helmbrecht hier in dieser schönen Stadt.«
Sie rang sich abermals ein Lächeln ab, allerdings konnte selbst Lina von ihrem Hochsitz aus erkennen, wie gezwungen es dieses Mal war. Lina schluckte den Ärger hinunter, wie selbstverständlich diese Leuwenhoeck den Namen Helmbrecht ins Spiel brachte. Vorsichtig kletterte sie von der Leiter. Trotz des grauen Winterwetters und des trüben Lichts in dem Raum schien ein Leuchten von der Fremden auszugehen, als habe sie die Wintersonne im Schlepptau. Die Herren waren sichtlich geblendet von ihrer Erscheinung.
»Auch das Fräulein Carlotta ist leider nicht zu sprechen«, stellte Egloff nach einem
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