Das Bernsteinerbe
größeren Zorn bei ihm. »Geh mir aus den Augen, bevor ich mich vergesse!«
Niemand sprang ihr bei. Selbst auf Marietta Leuwenhoecks ebenmäßigem Gesicht zuckte es ungehalten. Lina bückte sich nach dem Eimer, raffte den Rock und schlich stumm hinaus.
Die Diele erschien ihr auf einmal wie das Paradies auf Erden. Das heimelige Knistern des Herdfeuers, das Brodeln des Gerstenbreis im Topf darüber, selbst Hedwigs herrisches Gebaren freuten sie.
»Und?« Kaum wartete Hedwig ab, bis sie den Eimer abgestellt und sich einige lose Haarsträhnen aus dem Gesicht gestrichen hatte. Betont holte Lina Luft. Die Köchin sollte ruhig merken, wie erschöpft sie war.
»Was ist da drin nur los?«, bohrte Hedwig weiter. »Man hört Egloff brüllen, dass einem angst und bange wird. So sag doch endlich, was die Fremde wollte.«
Gemächlich rückte sich Lina einen Schemel an den Tisch und setzte sich nieder, wobei sie das Kinn mit der Hand abstützte, was Hedwig, wie sie nur zu gut wusste, nicht ausstehen konnte. Geflissentlich aber übersah die Alte es, wohl, um sie endlich zum Reden zu bringen. Milla schlich zu ihr, drückte ihr sanft die Hand und sah sie mit ihren Rehaugen an.
»Helmbrecht ist auch weg«, sagte Lina und lauschte den eigenen Worten nach. Fieberhaft überlegte sie, wie sie am besten von Mariettas Auftritt im Kontor berichtete. Hedwigs Einschätzung dazu war ihr sehr wichtig. Andererseits konnte sie schlecht zugeben, die weißblonde Schönheit bereits von ihrem heimlichen Besuch im Grafenkrug zu kennen. Das neuerliche Klopfen an der Eingangstür erlöste sie aus ihren Grübeleien.
»Was ist denn heute los? Es geht hier zu wie im Taubenschlag.« Grummelnd schlurfte Hedwig dieses Mal selbst zur Tür, schob den Riegel zurück und öffnete. Ein Schwall eisiger Luft, versetzt mit einigen Schneeflocken, wehte herein. Apotheker Pantzer aus dem Löbenicht schob sich eilig an ihr vorbei und half ihr, die schwere Tür gleich wieder sorgfältig zu verschließen.
»Ist das ein Wetter!«, rief er und nahm den breitkrempigen Hut so schwungvoll vom Kopf, dass die Schneereste durch die Diele flogen. Zu allem Überfluss schüttelte er noch den Kopf, um das nackenlange Haar und den struppigen Bart vom Eis zu befreien. Selbst in den buschigen Augenbrauen glitzerten Schneekristalle. Die narbenübersäten Wangen waren rot vor Kälte. Hedwig schnaubte und ging auf Abstand. Sie mochte den grobschlächtigen Apotheker aus dem Löbenicht nicht.
»Ich muss zu Fräulein Carlotta«, hielt er sich nicht mit umständlichen Begrüßungsformeln auf, sondern befreite sich von seinem wollenen Übermantel und hängte ihn über das Treppengeländer. »Ich habe ihr etwas sehr Wichtiges zu übergeben und auch eine ganz vertrauliche Nachricht zu übermitteln.«
Den letzten Halbsatz sprach er zögernd und weitaus leiser. Sofort horchte Lina auf. Hedwig schnaubte abermals, um an das Versprechen den Grohnerts gegenüber zu erinnern, so schnell niemandem von ihrer Abreise zu erzählen.
»Mit all diesen Angelegenheiten müsst Ihr Euch wohl eine Zeitlang gedulden«, gab sie brüsk zu verstehen.
»Wenn Ihr erlaubt, setze ich mich hierher«, erklärte er. Ohne ihre Zustimmung abzuwarten, zog er sich bereits einen Stuhl zurecht. Etwas an seinem Auftritt brachte selbst Hedwig dazu, ihm nicht sofort zu widersprechen oder gar die Tür zu weisen. Milla starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Kurz nickte er Lina zu, dann starrte er abwesend in die Luft und klopfte mit den Händen suchend seinen schwarzen Rock von oben bis unten ab. Voller Staunen bemerkte Lina dabei die gewaltigen Ausmaße seiner Hände. Unvorstellbar, dass er mit diesen riesigen Fingern filigrane Phiolen handhabte oder gar kleine Tabletten drehte, wie sie es einmal bei Carlotta gesehen hatte. Mit einem siegesgewissen Grinsen zog er unterdessen einen braunen Tiegel aus der linken Innentasche seines Rocks und stellte ihn behutsam auf die Tischplatte.
»Das«, erklärte er mit stolzer Stimme, »ist die Rezeptur, auf die das Fräulein Carlotta seit Wochen, ach, was sage ich, seit Jahren wartet!« Stolz lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück.
Alle schwiegen ergriffen. Ein Holzscheit kippte zischend in die Flammen, der Brei brodelte über dem Feuer. Hedwig machte keine Anstalten, sich darum zu kümmern. Von nebenan aus dem Kontor drangen leise Stimmen herüber. Auch das schien sie nicht mehr sonderlich zu interessieren. Caspar Pantzers Auftauchen hatte ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich
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