Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
Vom Netzwerk:
einfach zu klein, um auf Dauer unliebsamen Begegnungen aus dem Weg zu gehen. Vorsichtig wandte sie den Kopf und blickte der Wirtin aus dem Grünen Baum ins feiste Gesicht.
    »Gott zum Gruß, Verehrteste«, murmelte sie und zwang sich zu einem Knicks. Dann aber sah sie hin. Etwas an der stämmigen Wirtsfrau stimmte nicht. Regentropfen perlten von der knolligen Nase, die Wangen waren feucht und gerötet von der Luft. Der Umhang der drallen Weibsperson war gar zu einem regelrechten Zelt angeschwollen. Das aber lag nicht am vergrößerten Umfang der Wirtin. Sie hatte ein Kind auf dem Arm, barg es gegen Regen und Kälte nahezu zärtlich an der eigenen Brust. Lina meinte, ihren Augen nicht zu trauen.
    »Karlchen!«, schrie sie auf. Der kleine Bursche kehrte ihr das schmale Gesichtchen zu. Sofort ließ sie den Korb fallen und entriss der Wirtin den Kleinen, der erschrocken losbrüllte.
    »Ist ja gut, mein Süßer, ich bin bei dir! Jetzt wird alles gut«, raunte sie ihm ins Ohr und presste ihn an sich. Unter ihren Worten und dem sanften Wiegen ihrer Hüften beruhigte sich das Kind. Augenscheinlich spürte er, wer sie war. Ein dicker Kloß schnürte ihr die Kehle zu. Sie roch an ihm, sog beglückt den vertrauten Geruch ein. Leicht war er geworden, stellte sie entsetzt fest. Womöglich war es ihm bei den Leuten in Pillau doch schlecht ergangen. Sie hätte ihn niemals dort lassen dürfen!
    »Wie kommt Ihr zu dem Kind?«, herrschte sie die Wirtin an. »Was fällt Euch ein, ihn an Euch zu nehmen? Autsch!« Der Schmerzensschrei galt Karl. Mit ganzer Kraft krallte sich der Bub in ihren Busen. Dass ein Anderthalbjähriger schon über solche Kräfte verfügte! Sie biss die Lippen aufeinander und löste seine Finger, angestrengt darauf bedacht, ihn nicht abermals zum Weinen zu bringen.
    »Du bist mir vielleicht eine gute Mutter!« Die Wirtin lachte böse. »Aber was will man von einer wie dir erwarten? Liederlich bist du, ganz liederlich, pfui! Und der arme Wurm hier muss es ausbaden. Kann einen dauern, das kleine Kerlchen!«
    »Was soll das?«, fragte Humbert Steutner. »Wovon redet Ihr, gute Frau?« Verwirrt schaute er zwischen beiden hin und her.
    Lina wiegte den Buben auf ihrem Arm, der sich längst vertrauensvoll an sie schmiegte.
    »Humbert, sei nicht böse. Ich glaube, wir müssen dringend miteinander …«, setzte sie verzagt an. »Also, Karl hier … Nein, anders: Vor ein paar Jahren bin ich … Oh, ich fürchte, es geht gerade nicht.« Tränen erstickten ihre letzten Worte.
    »Ich kann doch mein Kind nicht im Stich lassen!«, presste sie schließlich mit aller Kraft heraus.
    Steif stand Steutner da. Eine unsichtbare Wand trennte sie beide. Die Wirtin hörte belustigt Linas hilflose Stammelei.
    »Jetzt jammerst du, Mädchen! Aber es ist zu spät. Als dieser schäbige Lump gestern Abend bei uns im Wirtshaus aufgetaucht ist, habe ich zuerst einen gehörigen Schreck bekommen. Ein Kind bringt der uns ins Haus! Und ausgerechnet Karl heißt der Bengel. Da hat es mir doch fast die Sprache verschlagen. Meinen alten Karl habe ich mir gleich dazugeholt. Der hat nicht weniger erschrocken ausgesehen als ich. Ein Blick ins Gesicht des Kleinen aber hat genügt, dem Spuk ein Ende zu machen. Es kommt auch von der Zeit her nicht hin. Du warst viel zu lange weg, bevor der Kleine hier … Also, bilde dir nur nicht ein, du könntest meinem armen Karl deinen Kleinen anhängen!«
    »Aber ich will Euch doch gar nicht … Fritz ist doch, das weiß er längst. Also, mein Karl soll doch gar nicht hier sein!«
    Wieder brachte Lina keine richtigen Sätze zustande. Der Umhang rutschte ihr vom Kopf. Heftig klatschte ihr der kalte Regen auf den Schädel. Bald hing ihr das strohblonde Haar in schweren Strähnen herab. Sie zitterte vor Kälte und vor Aufregung. Hilfesuchend starrte sie zu Steutner.
    »Humbert, bitte!«, flehte sie leise. Ein schwaches Zucken umspielte seinen Mund. Bang sah sie ihn an, drückte Karls winzigen Kopf fest gegen die Brust, schlang den Umhang um ihn, damit er nicht fror.
    »Also, mir ist das gleich klar gewesen«, polterte die Wirtin weiter. »Dieser erbärmliche Lump nennt sich zwar Vater, doch sorgen kann der nicht für das Kind. Unsereins aber hat wenigstens ein Herz. Man kann so ein armes Würmchen ja nicht im Stich lassen.« Sie hielt inne, schnaubte zufrieden beim Gedanken an die eigene Barmherzigkeit. »›Karl‹, habe ich also zu meinem Karl gesagt, ›egal, wie es ist, wir nehmen den kleinen Burschen erst einmal zu

Weitere Kostenlose Bücher