Das Bernsteinerbe
Doktor Lange nicht können?«
»Das frage ich mich auch.« Carlotta war zunächst nicht weniger verwundert als er. Doch mit einem Mal begriff sie, worauf die Mutter hinauswollte.
»Dein Vater! Verzeih, Liebster, aber du bist weniger als Medicus denn als Sohn gefordert. Als kurfürstlicher Leibarzt und alteingesessener Physicus der Altstadt zählt das Wort deines Vaters mehr als jedes andere. Was er als Medicus gutheißt, wird niemand in Zweifel zu ziehen wagen. Vergiss nicht, er hat die Wirksamkeit der Tropfen bereits am eigenen Leib erfahren. Er muss es nur offen bekunden.«
»Mag sein«, sagte Christoph nachdenklich. »Doch es wird nichts nützen. Schließlich habe ich mit meinem Vater endgültig gebrochen.« Traurig sah er Carlotta an. »Das ist auch ein Grund, warum ich mit Caspar hierhergeritten bin. Leider ist es völlig ausgeschlossen, meinen Vater in dieser Angelegenheit um Unterstützung zu bitten. Er wird mir diesen Gefallen nicht tun. Und Euch, mit Verlaub, verehrte Frau Grohnert, ebenfalls nicht. Nur zu gut kennt Ihr seine Vorbehalte gegen Wundärzte und vor allem gegen Euch persönlich. Eine Frau, die im kaiserlichen Tross während des Großen Krieges ihr Handwerk ausgeübt hat, ist für ihn nie und nimmer gleichwertig.«
»Eigentlich hatte ich die Hoffnung, gerade ein so kluger Mann wie dein geschätzter Herr Vater sei bereit, immer wieder dazuzulernen. Angesichts all seiner Studien und Bücher müsste ihm klar sein, wie wenig wir wissen und wie dringend es nottut, dieses spärliche Wissen zu ergänzen, insbesondere durch den Austausch mit Gleichgesinnten wie meiner Mutter.«
»Du vergisst, Liebes«, mahnte Magdalena, »dass wir beide Frauen sind. Für studierte Doktoren wie den hochverehrten Ludwig Kepler ist das noch schlimmer.«
»Dabei sollte doch vor allem dein Vater wissen, was es heißt, wenn weise Frauen übel verleumdet werden.« Carlotta konnte nicht mehr an sich halten. »Auf eine allzu lange Tradition an studierten Gelehrten blickt eure Familie nicht zurück. Oder hat er tatsächlich schon vergessen, dass seine eigene Großmutter noch eine weise Kräuterfrau gewesen ist? Fast hätte man sie auf den Scheiterhaufen geworfen.«
»Das erklärt einiges«, raunte Magdalena.
Erstaunt sah Carlotta sie an. »Hast du das nicht gewusst?«
12
M ehrere Wochen lang hatte der Winter die Dreistädtestadt am Pregel fest in den Klauen gehalten. Als nach dem zweiten Freitag im Dezember plötzlich Regen einsetzte und unerwartet milde Luft durch die Gassen wehte, genoss Lina das von ganzem Herzen. Vergnügt rührte sie im Topf mit dem Gerstenbrei und summte ein munteres Frühlingslied.
»Zu Mariä Empfängnis Regen, bringt dem Heu keinen Segen«, knurrte Hedwig missmutig. Mit einem lauten Knall warf sie einen Klumpen Brotteig auf den Tisch, langte mit den Fingern in den Mehltopf und streute Mehl darüber. »Das mit dem Wetter ist noch so ein böses Omen. Ich hab es doch gleich gesagt: Der junge Kepler ist unser aller Unglück! Seit er Carlottas Bernstein ins Feuer geworfen hat, reißt es nicht ab.«
Erschrocken duckte sich die schmächtige Milla neben dem Herd. Dabei stieß sie gegen den Stapel Feuerholz, den sie gerade sorgsam aufgeschichtet hatte. Polternd fiel er um. Hedwig quittierte die Ungeschicklichkeit mit einem weiteren verärgerten Grummeln. Lina dagegen lachte auf. Schluchzend machte Milla sich daran, die Holzscheite wieder aufzurichten.
»Regt Euch nicht auf!« Lina lächelte vergnügt. »Der Regen ist doch erst am Samstag gekommen, also ein Tag nach Mariä Empfängnis. Und außerdem ist es sehr lange hin, bis das Heu im nächsten Sommer eingebracht wird. Wer weiß, was bis dahin noch alles geschieht? Ich werde mir jedenfalls nicht jetzt schon das Leben verdrießen lassen. Es gibt auch genug Erfreuliches. Denkt nur an die Nachricht, die uns die Grohnert-Damen aus Frauenburg geschickt haben. Endlich sind sie in Sicherheit. Jetzt wird bestimmt alles gut.«
»Ach, Kindchen, dein sonniges Gemüt möchte ich haben.« Wieder klatschte die Köchin den Brotteig kräftig aufs Holz der Tischplatte und walkte ihn durch, als zeichnete er allein für ihre schlechte Stimmung verantwortlich. »Schon allein, dass die verehrte Frau Grohnert dort in Frauenburg ausgerechnet die Steinackerin treffen muss, verheißt nichts Gutes. Musste das Schicksal sie vor diese neuerliche schwere Prüfung stellen? Du hast ja keine Ahnung, was das bedeutet. Die Steinackerin hat ihr in Frankfurt schon das Leben zur Hölle
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