Das Bernsteinerbe
krochen. Vor den Krämerbuden drängten sich die Leiber dicht an dicht. Direkt vor dem Badehaus rief ein Zeitungsjunge die neueste Ausgabe des Europäischen Mercurius aus. Gebannt verharrte Lina einen Moment, lauschte dem, was der Bursche unablässig den Vorübereilenden zurief.
»Hieronymus Roth in Kolberg eingetroffen! Der Schöppenmeister zu Kneiphof am Pregel als gemeiner Gefangener der Obrigkeit. Standhaft weigert er sich, Seine Durchlaucht, Kurfürst Friedrich Wilhelm, untertänigst um Gnade zu bitten.«
Als er ihr ein Blatt direkt unter die Nase hielt, wich Lina zurück. Sie verstand nicht viel von dem, was in den letzten Monaten in der Dreistädtestadt am Pregel vorgefallen war. Gut lesen konnte sie auch nicht. Dennoch ahnte sie, wie aufrührerisch sich dieser Roth verhalten hatte. Damit wollte sie nichts zu tun haben. Rasch huschte sie zwischen den vielen Menschen hindurch.
Beim angestammten Fettkrämer an der vorletzten Bude der Krämerbrücke erstand sie Käse und Schmalz. Danach eilte sie zur erstbesten Fischfrau auf dem Fischmarkt und kaufte getrocknetes Fischwerk. Das musste genügen, ein wenig Abwechslung auf den Mittagstisch zu bringen. Viel wichtiger war, Hedwigs unausgesprochenem Auftrag nachzukommen und Steutner unauffällig zwischen Hundegatt und Krämerbrücke abzufangen. Die Aussicht, den Geliebten mitten am Tag eine Weile für sich zu haben, zauberte ihr ein Lächeln aufs Gesicht.
Sie beschleunigte ihre Schritte und erspähte das Hundegatt. Die milde Witterung der letzten Tage hatte das Eis auf den Pregelarmen schmelzen lassen. Dennoch lagen Boote und Kähne fest vertäut am Ufer. Seit Wochen schon gab es keine Handelsschiffe zu be- oder entladen. Früher als üblich war der Seeverkehr in diesem Jahr eingestellt worden. Dennoch lag der Hafen nicht völlig ausgestorben da. Hie und da hielten Fuhrwerke vor den Lagerhäusern. Einige Kaufleute nutzten den Tag, ihre Warenbestände im Kaufhaus am Markt aufzufüllen. Kräftige Burschen schleppten Kisten, Säcke oder Holzbalken vorbei. Lina musste sich vorsehen, niemandem zwischen die Füße zu geraten, wollte sie unbeschadet das Singeknecht’sche Lagerhaus erreichen. Da erspähte sie Humbert Steutner. Weit holten die langen Beine aus, gleichzeitig schwankte der dünne Oberkörper nach vorn. Ein heißer Strahl schoss ihr durch den Körper. Seit Tagen schon verzehrte sie sich nach ihm. Es war schier unerträglich, ihn so nah bei sich zu wissen, aber nie auch nur die geringste Gelegenheit für eine zärtliche Berührung oder gar einen hastigen Kuss zu finden.
»Humbert«, rief sie und winkte mit der freien Hand. Als er sie entdeckte, hellte sich sein Gesicht auf.
»Lina, was machst du hier?«
»Hedwig hat mich zum Markt geschickt.« Zur Bestätigung hob sie den Korb mit den Einkäufen. »Das aber ist nicht alles, was ich für sie besorgen soll.«
»Oh, welch Glück für dich. Die Gute sollte sich beim Kurfürsten als Aufpasser bewerben. Seit die Grohnert-Damen abgereist sind, herrschen in der Langgasse weitaus strengere Regeln als zuvor. Nicht mal zum Abort kannst du gehen, ohne dass sie es mitbekommt. Wie habe ich unsere kleinen Ausflüge vermisst.«
»Was soll ich erst sagen?«, stöhnte Lina auf. »Doch lass uns nicht jammern. So, wie es aussieht, siegt ihre unstillbare Neugier über all ihr Bemühen um Sitte und Anstand.«
»Ja, da eröffnen sich gute Gelegenheiten für uns, wie mir scheint.« Er zwinkerte vergnügt. »Allein, wie du letztens am helllichten Tag im hochheiligen Kontor vor Egloffs Augen das Regal gewischt hast! Ein wunderbarer Anblick!«
»Du solltest nicht nur genießen, mein Liebster. Alles hat seinen Preis, insbesondere das Vergnügen. Doch wenn du mir ab und an ein kleines Geheimnis über euer Treiben hinter der verschlossenen Kontortür preisgibst, wird Hedwig mich wohl öfter in deine Nähe lassen.«
»Welch verlockende Aussichten.« Neckend versetzte er ihr einen sanften Nasenstüber und beugte sich zu ihr. Ihr Herz machte einen Hüpfer. Seinen Atem auf den Wangen zu spüren, gleich gar seine Lippen auf den ihren zu haben, versetzte ihren Leib in erwartungsvolle Schwingungen.
»Wen haben wir denn da?«, hörte sie eine vertraute Stimme dicht an ihrem Ohr. Sie erschrak. Über ihrer Träumerei hatte sie einen Moment zu lang die Augen geschlossen und nicht auf die Menschen in ihrer Umgebung geachtet.
Jetzt war es passiert! Doch Lamentieren nutzte nichts. Eines Tages hatte es so weit kommen müssen. Der Kneiphof war
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