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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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Gleichzeitig wollte sie mehr Abstand zu Helmbrecht. Er sollte nicht sehen, wie stark er sie verunsichern konnte.
    Im ersten Moment blendete sie die Helligkeit. Sie schloss die Augen und spürte den roten Feuerbällen nach, die die Sonne auf den Innenseiten der Lider hervorrief. Als sie erloschen waren, hob sie die Lider wieder. Um sie her war nur das übliche Gewühl schwer schleppender Männer zu sehen. Unwillkürlich lief sie los, hielt auf den schweren Kran wenige Speicher flussaufwärts zu. Sie wollte sehen, ob Schrempf Mattes gefunden und beauftragt hatte, die kostbare Kiste in die Langgasse zu bringen.
    Das Gedränge der Tagelöhner wurde dichter. Sie blickte in Gesichter, die ihr größtenteils von den täglichen Besuchen an der Lastadie vertraut waren. Die Männer trugen schwere Säcke und Kisten auf den Schultern. Zufrieden stellte sie fest, dass die Ablader, wie von Schrempf gemeldet, fleißig das Schiff aus Danzig mit ihren Waren ausluden. In dem Tempo würde ihnen das ohne große Mühe bis zum Anbruch der Dunkelheit gelingen. Dass alles so reibungslos vonstattenging, freute sie. Noch wenige Schritte, dann hatte sie den großen Kran erreicht. Dort stand auch schon Schrempf und beriet sich mit einem schwarzbärtigen Kapitän. Mattes hatte er wohl schon losgeschickt.
    »Achtung!« Ein eigenartiges Geräusch ertönte, dem folgte ein gefährliches Surren, dann ein gewaltiges Reißen, und schließlich endete alles in einem tösenden Prasseln, als fielen nicht harte Wassertropfen, sondern Steine wie donnernder Regen zu Boden. Magdalena fühlte, wie ihr von hinten ein Stoß versetzt wurde. Jemand umfasste ihre Hüfte und zog sie mit sich. Steif streckte sie die Arme vor und suchte, die Wucht des unweigerlich harten Sturzes im letzten Augenblick abzufangen.
    Als sie niederstürzte, war sie erleichtert, auf weichen Säcken zu landen. Doch die Freude über das sanfte Fallen währte nicht lang. Dumpf prallte der schwere Leib Helmbrechts auf sie, drückte sie fest auf die Erde, sprach allem Abfedern hohn. Schwärze umfing sie.
    Eine halbe Ewigkeit später konnte sie die Augen wieder öffnen, Luft schöpfen, bald sogar gleichmäßig atmen. Helmbrecht kniete neben ihr, die helle Reisemontur noch stärker verschmutzt als zuvor, die Blatternarben tiefer in die Wangen eingegraben, selbst die große Nase weiter aus dem Gesicht hervorragend als sonst. Trotzdem lächelten seine bernsteinfarbenen Augen, sprühten die dunklen Punkte darin vor Erleichterung, ja Freude, sie zu sehen. Wie aus weiter Ferne drang ein Gemisch fremder, aufgebrachter Stimmen zu ihr durch. Endlich beugte sich Schrempfs vertrautes Gesicht zu ihr herunter. »Seid Ihr in Ordnung, Gnädigste? Habt Ihr Euch etwas getan?«
    Langsam ließ er sich auf die Knie. Sie verstand jede Silbe, die er sagte, klar und deutlich. Seine breite Hand zitterte, als er die ihre in die Hand nahm und einen ehrfürchtigen Kuss darauf hauchte. Erst dadurch fand sie in die Wirklichkeit zurück.
    »Alles in Ordnung, Schrempf«, beruhigte sie ihn und stützte sich auf seine Hand, um vom Boden aufzustehen. Auf der anderen Seite kam ihr Helmbrecht zu Hilfe, bevor er selbst unter Ächzen aus den Säcken hervorkroch, auf denen sie beide gelandet waren. »Zum Glück haben wir ein gutes Polster gefunden«, keuchte er. »Das hätte böse ausgehen können.«
    »Ihr sagt es«, pflichtete Schrempf bei und wies mit dem Zeigefinger in die Luft. Magdalena sah erschrocken, dass am Ausläufer des großen Hafenkrans die Fetzen eines aufgerissenen Sacks baumelten. Die gesamte Ladung musste aufgeplatzt und zu Boden gedonnert sein. »Ist heute nicht Freitag, der Dreizehnte?«
    Böses ahnend, äugte Magdalena zu einer Stelle gleich hinter Schrempf. Dort hatte sich die Ladung über den festgestampften Lehmboden der Kaimauer ergossen. Große und kleine Stücke Kohle kullerten umher, eine schwarze Staubschicht überdeckte alles. Binnen kürzester Zeit hatte sich eine gewaltige Schar Neugieriger um den Unglücksort gesammelt. Gebannt starrten sie alle in dieselbe Richtung. Magdalena benötigte zwei, drei Atemzüge, bis sie begriff, dass sie nicht zu ihr und Helmbrecht stierten, sondern zu einem Fleck rechts von ihnen. Sie wandte sich ebenfalls in die Richtung und erspähte ein Bündel Mensch, lang ausgestreckt auf dem Boden. Auf weichen Knien stakste sie zu ihm, ließ sich neben ihm nieder und besah sich den Ärmsten.
    An seiner Stirn klaffte eine große, blutende Wunde. Leer starrten seine Augen nach oben.

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