Das Bernsteinerbe
»O Gott!«, entfuhr es ihr, gleichzeitig zerrte sie bereits an ihrer Schnebbe, um die Spitze als Verband zum Abbinden zu verwenden. »Schnell, helft mir! Zerreißt eure Hemden in lange Streifen, bringt mir Leinen und Tücher, damit ich die Blutung stoppen kann. Auch Säcke schaden nicht, den armen Mann weicher zu betten.«
Aufgeregt wedelte sie mit einer Hand durch die Luft. Unterdessen glitt ihr Blick über den reglosen Leib. Die Gliedmaßen wirkten nicht sonderlich verkrümmt. Wenn er Glück hatte, trug er von dem Sturz keine Knochenbrüche davon. Lediglich die Verletzung am Kopf wirkte bedrohlich. Doch aus ihrer Zeit als Wundärztin im Großen Krieg wusste Magdalena, dass oft allein der Blutverlust gefährlich wurde. War man dem erst einmal Herr geworden, entpuppte sich die Verletzung häufig nicht als sonderlich schlimm. Ein ähnliches Unglück trat ihr vor Augen, damals in Frankfurt, in ihrem Hof in der Fahrgasse. Der gebrochene Lastzug hätte fast einen der Ablader erschlagen. Sie knüllte die Spitzenschnebbe zu einem festen Ballen und presste ihn mit aller Kraft auf die Wunde.
»He, wo bleibt eure Hilfe?«, rief sie noch einmal in die Menge der Gaffenden. Es schien ihr, als wären Stunden vergangen, seit sie den Verletzten entdeckt hatte. Endlich löste sich jemand aus dem Kreis der Schaulustigen. Erst als er sie knurrend beiseiteschob, erkannte sie Wundarzt Koese aus dem Kneiphof.
»Lasst mich den Mann versorgen. Das ist meine Arbeit, gute Frau. Geht nach Hause und erholt Euch von dem Schreck.«
Sie wollte protestieren, ihn daran erinnern, dass auch sie einst die Heilkunst erlernt hatte und dank des Großen Krieges gewiss weitaus mehr Erfahrung in der Behandlung solcher Wunden besaß als er. Doch jemand fasste sie an den Schultern und zog sie weg.
»Lasst ihn«, hörte sie Helmbrechts Stimme dicht an ihrem Ohr.
»Seht Ihr jetzt, wie recht ich daran tat, noch einmal zu Euch an den Pregel zurückzukehren?« Noch immer sprach Helmbrecht aus nächster Nähe. Inzwischen saßen sie auf einem Stapel Holz, mit einigem Abstand zum großen Hafenkran und dem verletzten Ablader. Befreit atmete Magdalena auf. Erst jetzt bemerkte sie das nach Minze riechende feuchte Tuch, das ihr jemand auf die Stirn gelegt hatte. Gierig sog sie den Geruch ein und schaute zu Helmbrecht. Zögernd nur schwand die Besorgnis aus seinem Antlitz und machte einem scheuen, jungenhaften Lächeln Platz.
»Mir scheint, Ihr gebt sowieso keine Ruhe, bis ich Euch das zugestehe«, erwiderte sie belustigt. »Also gut, mein lieber Helmbrecht: Ich freue mich sehr, Euch in diesem Herbst noch einmal ganz unerwartet hier in Königsberg begrüßen zu dürfen. Obwohl mir die gute Hedwig des heutigen Datums wegen dunkle Voraussagen gemacht hat, scheint dennoch mein Glückstag zu sein. Eins aber müsst Ihr zugeben: Ihr werdet kaum gekommen sein, um mich vor einem Sack herabstürzender Kohle zu bewahren. So viel Voraussicht Euch auch sonst zu eigen sein mag: Das konntet selbst Ihr nicht ahnen. Was also hat Euch veranlasst, Eure Pläne zu ändern?«
Über ihren Worten verfinsterte sich seine Miene. Mehrmals räusperte er sich. »Ich habe es befürchtet, und Euer Verhalten bestätigt es mir: Euch ist nicht im Geringsten bewusst, was hier demnächst geschehen wird. Sollte der Kurfürst mit seinen Truppen tatsächlich hier ankommen und die aufmüpfigen Kneiphofer Stände mit Gewalt in ihre Schranken weisen, werdet gerade Ihr, die Ihr erst wenige Jahre hier lebt, die Wut der Bürger über die Niederlage auszubaden haben. Mir sind erste Gerüchte zu Ohren gekommen, die Carlotta betreffen. Hat sie nicht unlängst Eure Standesgenossen zu dieser List mit den Särgen angestiftet? Im Zweifelsfall wird man Euch beiden das übel auslegen. Bitte seid vernünftig, Verehrteste, packt Eure Sachen und kommt beide mit mir nach Leipzig. Diesen Winter solltet Ihr nicht hier am Pregel bleiben. Wenige Monate genügen, bis sich die Lage beruhigt hat und Ihr wieder in Euer Kontor könnt.«
»Nein, mein guter Helmbrecht, das werde ich ganz gewiss nicht tun.« Tief seufzte sie, tupfte sich mit dem kühlen Leinentuch die glühende Stirn. Insgeheim teilte sie jedoch seine Befürchtungen. Seit Carlottas Leichtsinn mit dieser törichten List, die sie ausgerechnet vor der versammelten Bürgerschaft im Junkergarten herausposaunt hatte, sorgte sie sich jeden Tag, für diese Unbedarftheit von höherer Stelle zur Rechenschaft gezogen zu werden. Keinesfalls aber wollte sie das offen
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