Das Bernsteinerbe
untersuche Euren Leib. Bis dahin befolgt bitte weiter meinen Rat und haltet Diät.«
»Wenn Ihr wüsstet, wie wohl mir das tut.« Ergriffen tätschelte er ihr den Arm, bevor er sie endlich ziehen ließ.
Die kurze Begegnung mit dem ehedem so strengen alten Kaufmann hatte Magdalena aufgewühlt. Seine Worte zu ihrem Wundarztdasein trafen eine empfindliche Stelle in ihrem Innersten. Zudem versetzte ihr die Kunde von Carlottas Turteln mit dem jungen Kepler einen Stich. Ob ihre Tochter an ihn gedacht hatte, als sie vorhin den zweiten Kalenderspruch erwähnt hatte? Magdalena seufzte. Hedwig hatte recht: Freitag, der Dreizehnte war kein guter Tag! Nicht eben wohlgestimmt, setzte sie ihren Weg fort.
Am Hundegatt strahlte die Oktobersonne auf unzählige Koggen, die an der Kaimauer im brackigen Wasser dümpelten. Mannshoch stapelten sich die aus ihnen entladenen Fässer, Kisten, Säcke, Truhen und Hölzer am Ufer. Selbst große Halden Sand und Kies waren kegelförmig aufgeschüttet, eindrucksvolles Zeugnis der ungebrochen regen Bautätigkeit in der Dreistädtestadt am Pregel. Schwer beladen mit Bau- und anderen Rohstoffen, eilten die Tagelöhner zwischen den Stapeln und den nahen Fachwerkspeichern hin und her. Wütend schallten die Befehle der Vorarbeiter über die Lastenträger hinweg.
Endlich hatte Magdalena den Singeknecht’schen Speicher in der vorderen Reihe an der Lastadie erreicht. »Schrempf, wo steckt Ihr?«, rief sie in das Halbdunkel des langgestreckten, bis zum hohen Dachfirst offenen Lagerraums hinein. Vergeblich hoffte sie auf eine Erwiderung. Keiner der Arbeiter schien da zu sein, nicht einmal der Lagervorsteher selbst erachtete es für nötig, die Kostbarkeiten im Speicherinnern zu beaufsichtigen. Verärgert kniff sie die Augen zusammen, um mehr sehen zu können.
Spärlich fiel das Spätnachmittagslicht vom Eingang herein. Ohnehin standen die Speicher an der Lastadie zu dicht beieinander, um viel Luft und Licht Einlass zu gewähren. So drang auch aus den oberen Geschossen, die über eine Galerie aus Holz erreichbar waren, kaum mehr Helligkeit nach unten. »Schrempf?«, rief sie ein weiteres Mal in das Halbdunkel und wartete, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Wieder erhielt sie keine Antwort. Innerlich bebte sie. Unglaublich, wie respektlos die Männer sich ihr gegenüber verhielten. Wahrscheinlich hatte ein Aufruhr sie nach draußen gelockt. Eine Schlägerei bot stets willkommene Abwechslung für die grobschlächtigen Lagerleute. Bevor die Wut ihr gänzlich die Laune verdarb, beschloss sie, sich selbst daranzumachen, die ersehnte Fracht aus ihrer alten Heimatstadt Frankfurt zu suchen.
Sie lief an den Regalen und Kisten entlang, versuchte, die mit Kreide und Farbe ungelenk angebrachten Aufschriften zu entziffern. Von draußen wehte ein strenger Geruch nach abgestandenem Wasser und uraltem Fisch herein, vermischte sich mit dem nach aufgewärmtem Holz und Sägemehl aus den Speichern. Sie zog ein nach Rosenöl duftendes Taschentuch aus ihrem schwarzen Damastkleid und hielt es sich vor die Nase. War sie etwa schon so empfindlich geworden, nicht einmal für kurze Zeit den Lastadiengestank zu ertragen? Verärgert biss sie sich auf die schmalen Lippen. Ihr halbes Leben hatte sie im Heerestross der Kaiserlichen verbracht, jahraus, jahrein unter Zeltplanen und Reisighütten gelebt. Ein vierseitig umschlossener, überdachter Raum wie dieses Lager wäre ihr in ihrer Jugend wie ein Palast erschienen. Eric fiel ihr ein, sein makelloser, muskulöser Körper, den sie einen Sommer lang verbotenerweise auf einem Heuboden in Freiburg liebkost hatte. Sie schluckte, wischte Tränen aus den feuchten Augenwinkeln. Hastig lenkte sie die Schritte zu einem abgetrennten Verschlag am Kopfende. Kleinere Holzkisten reihten sich dort auf dem Boden aneinander. Eilig beugte sie sich hinab. Einige ihrer roten Locken rutschten unter der schwarzen Trauerschnebbe heraus. Hastig stopfte sie die zurück unter die Spitze, bedauerte einmal mehr, wie dünn ihr Haar geworden war. Dabei war sie erst siebenunddreißig! Sie schnaufte und bückte sich tiefer über die Kisten in der Hoffnung, einen Hinweis zu entdecken, ob sie aus Frankfurt kamen. Als sie nichts dergleichen sah, erwog sie, ein Stemmeisen zu suchen und die Kisten gewaltsam zu öffnen. Ein Poltern vom Eingang her riss sie aus diesen Überlegungen.
»Schrempf!«, rief sie. »Wo habt Ihr nur gesteckt?« Sie strich sich den Rock glatt und trat aus dem Verschlag.
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