Das Bernsteinerbe
Heldentaten aber boten sich weiterhin weder für Wundärzte noch für andere Wagemutige, was unter anderen Umständen eine gute Nachricht gewesen wäre. Der Abzug der Menge erfolgte nahezu schweigend und vor allem friedlich. Nicht einmal die Tatsache, dass der vierseitig umbaute Schlosshof mit seinen schmalen Ausgängen die Menge gefangen hielt wie in einem engen Mausekäfig, erregte Zorn. Geduldig schoben sich Gelehrte wie Junker, Bürger wie Handwerker Schulter an Schulter zu den schmalen Toren hinaus. Daran änderte sich selbst dann nichts, als Friedrich Wilhelm mitsamt seinem Gefolge längst in den Tiefen des weitläufigen Schlossgebäudes verschwunden war.
»Luft, Luft!«, erklang es plötzlich von der rechten Seite. Carlotta hatte Mühe, sich umzudrehen, so nah waren die Leute von allen Seiten an sie herangerückt. Dann aber erspähte sie einen dürren älteren Herrn mit schwarzem Hut und hohem Kragen, der verzweifelt mit der Hand vor seinem rot angelaufenen Gesicht fächelte. Die hellen Augen traten ihm bereits aus den Höhlen. Kein Zweifel: Er brauchte ärztliche Hilfe, sofort!
»Macht Platz, ich bin Arzt!«, befahl Christoph, der ebenfalls auf den Mann aufmerksam geworden war. Eine Andeutung von Genugtuung huschte über sein Gesicht. Dank seiner muskulösen Arme erkämpfte er sich freie Bahn, um zu dem Unglücklichen vorzudringen. Im Schatten seiner breitschultrigen Gestalt konnte Carlotta leicht folgen. Fast hatten sie den Patienten erreicht, da kippte der Mann mit blau angelaufenem Antlitz zur Seite. Das dichte Gedränge verhinderte, dass er zu Boden fiel. Sein Nachbar zur Linken fing ihn auf.
»Zur Seite mit ihm«, wies Christoph ihn an. »Dort vorn am Turm ist ausreichend Platz. Da wird er wieder zu sich kommen.«
Gehorsam befolgte der Angesprochene die Anweisungen und schleppte den Dürren gegen die Menge der Entgegenkommenden zu dem runden Turm in der nordwestlichen Ecke des Hofes. Auf den Steinstufen vor dem Eingang des halbrunden Turms setzte er ihn ab und verschwand sofort im dichten Gewühl. Carlotta wollte ihn aufhalten, lief ihm zwei, drei Schritte nach. Dann aber teilte sich die Menge, und Carlotta wurde abgedrängt.
Ein Fähnlein kurfürstlicher Soldaten in blauen Röcken und roten Gamaschen, die grimmigen Gesichter unter breiten, braunen Hüten verborgen, marschierte quer durch den Hof. Ihr blieb nichts anderes, als sie passieren zu lassen. Bereits halb abgewandt, um zu Christoph zurückzukehren, stutzte sie. Aus den Augenwinkeln meinte sie, in dem vorweg schreitenden Offizier ein ihr nur zu bekanntes, blasses Gesicht mit riesiger Nase und nahezu schwarzen Augen zu erspähen. Mathias!, schoss es ihr in den Sinn. Vor Schreck wurde ihr die Kehle eng. Sie rang nach Luft. Im nächsten Moment war der Spuk vorüber. Die Soldaten waren vorbei, die Menge schloss sich wieder eng zusammen.
»Carlotta, wo steckst du?«, hörte sie Christoph rufen. Rasch kämpfte sie sich wieder zu der Ecke durch, in der er mit dem Alten kauerte. Gerade beugte er sich über den Patienten, öffnete ihm die obersten Knöpfe von Hemdkragen und Rock und begann, ihm mit seinem Hut Luft zuzufächeln. Gleichzeitig fühlte er ihm den Puls. Carlotta kniete sich auf der anderen Seite nieder und ergriff die Hand des älteren Herrn. Allmählich erfolgte sein Luftholen rhythmischer, die Brust hob und senkte sich langsamer als zuvor. Binnen kürzester Zeit kehrte die gesunde Gesichtsfarbe auf das spitze Antlitz zurück. Er schlug die Augen auf und schaute erst Christoph, dann Carlotta dankbar an.
»Bleibt noch ein Weilchen hier sitzen«, riet Christoph mit seiner wohlklingenden Stimme. »Wenn der Schlosshof leerer ist, gelangt Ihr wohlbehalten nach Hause. Es waren die Enge und der Trubel, die Euch im wahrsten Sinn die Luft genommen haben.«
»Wenn Ihr wollt, gebe ich Euch einige Tropfen Theriak«, fügte Carlotta hinzu, froh, endlich etwas tun zu können, und kramte in der Wundarzttasche. »Hier, seht, da ist er schon, verfeinert mit einigen besonderen Ingredienzien. Der hilft Euch rasch wieder auf die Beine.«
Geschickt entkorkte sie die Phiole und träufelte dem Mann ein Dutzend Tropfen auf die Zunge. Brav schluckte er die bitteren Tropfen und drückte ihr ergriffen die Hand. »Gott segne Euch, meine Kinder«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ihr beide habt mir eine wahre Wohltat erwiesen.«
»Dazu sind wir Ärzte doch da«, wiegelte Christoph ab, konnte einen Anflug von Rührung allerdings schlecht verbergen. Carlotta
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