Das Bernsteinerbe
du jetzt nicht gleich davonlaufen, meine Liebste. Schließlich brauche ich immer noch deine Hilfe.«
Galant hob er ihre Hand zum Mund, hauchte zu ihrer Freude einen zarten Kuss darauf und suchte den Blick ihrer blauen Augen. Ihr Herz tat einen Sprung, gewaltige Zärtlichkeit erfasste sie. Das wog allen Kummer der letzten Stunden auf, ließ sie gar den Zwist mit der Mutter vergessen.
»Hast du dir etwas getan? Zeig mir deine Wunde«, forderte sie ihn scheinbar besorgt auf. Zu ihrem Erstaunen schwitzte er stark. Die glattrasierten Wangen glänzten, Schweißperlen standen ihm auf Stirn und Nasenspitze. Sie widerstand der Versuchung, ihm auf offener Straße die Hand auf die Stirn zu legen. Stattdessen umfasste sie den Bernstein. Christophs dunkelgrüner Samtrock schien zwar dem nahen Oktoberende angemessen, aber wenig für die derzeit herrschenden spätsommerlichen Temperaturen geeignet. Behutsam fuhren ihre Finger über den weichen Stoff, fühlten den Verlauf der dichten Fasern. »Eine offene Wunde scheint es nicht zu sein, eher hat dich ein Fieber gepackt.«
»Ja, genau, ein ernstes Fieber hat mich gepackt.« Seine Stimme klang heiser. »Das ist es, wofür ich dich dringend brauche. Schließlich tut sich ein studierter Medicus schwer, ohne die Unterstützung eines tüchtigen Wundarztes am eigenen Leib das Fieber einzudämmen.«
Ein lauer Wind kam auf und wehte ihr eine rotblonde Locke ins Gesicht. Bevor sie sie zurückstreichen konnte, übernahm er das, ließ seine warme, rechte Hand einen Moment länger als nötig in ihrem Nacken ruhen. Ein spitzbübisches Lächeln umspielte seine Lippen, er zwinkerte schelmisch. »Ich wüsste auch schon eine angemessene Kur, die nur du mir angedeihen lassen kannst.«
»So?« Wieder schauderte es sie angenehm.
Im selben Moment erhielt sie einen Stoß in den Rücken und fiel gegen Christoph. Ein Altstädter Bürger hatte ihr im Vorübergehen den groben Schlag versetzt. Verärgert drehte sie sich zu ihm um und wollte ihn brüsk zurechtweisen. Da entdeckte sie den Grund für sein Verhalten: Ein Fähnlein Soldaten marschierte aus dem Schlosshof hinaus und über den Platz. Wieder erstarrte sie beim Anblick des anführenden Offiziers. Dieses Mal war es nicht allein sein Gesicht, auch die Art, sich zu bewegen, erinnerte an den vermissten Vetter aus Frankfurt. Ihr wurde übel.
»Was ist? Du siehst auch so aus, als könntest du noch etwas frische Luft vertragen.« Christoph legte ihr die Hand auf die Wange. »Schließlich haben wir das vorhin bei unserem Patienten im Schlosshof schon gut beobachtet. Lass uns noch einige Schritte gemeinsam gehen. Drüben auf der Lomse bei den Lauben weht gewöhnlich eine erquickliche Brise.«
»Eine gute Idee.« Wie um seine Worte zu prüfen, wandte sie das Gesicht der Sonne zu. Die Augen geschlossen, spürte sie dem lauen Luftzug nach, der wohltuend ihre Wangen streifte. Wenn sie anfing, Gespenster aus der Vergangenheit zu sehen, musste sie dringend etwas für ihr Wohlbefinden tun. Nur so konnte sie sich ausreichend für die Unbill wappnen, die sie später bei ihrer Rückkehr zu Hause erwartete. Sie öffnete die Augen und strahlte Christoph an. Dabei zeigte sich ein Grübchen am rechten Mundwinkel. »Inmitten der herbstlichen Gärten wird der Wind auf der Lomse besonders frisch und gesundheitsfördernd sein. Das haben wir uns nach all der Aufregung wirklich verdient.«
»Dann also nichts wie hinüber zur Lomse.« Wohlgemut rückte Christoph seinen Hut auf dem breiten Schädel zurecht, nahm ihr die Wundarzttasche ab und bot ihr den Arm.
Seite an Seite schritten sie über den Altstädter Markt, wählten geschickt ihren Kurs zwischen den Ständen mit meckernden Ziegen, schnatternden Gänsen und gackernden Hühnern. Kurz dahinter schlossen sich unzählige Körbe voller Rüben, Bohnen, Erbsen, Äpfel, Birnen und Kürbisse an. Der süße Duft des reifen Obstes vermischte sich angenehm mit dem kräftiger Kräuter und Gewürze, die einige Schritte weiter feilgeboten wurden. Von der Aufregung der Ratsherren und Bürger, die das Areal rund um das Schloss beherrscht hatte, war unter den feilschenden Hausfrauen, Mägden und Bauersweibern wenig zu spüren. Kaum hoben sie den Kopf, wenn wieder eine Handvoll Herren auf dem Weg zum Rathaus aufgeregt debattierend an ihren Auslagen vorbeihasteten.
Endlich erreichten Carlotta und Christoph das südliche Ende des Platzes und schwenkten einvernehmlich nach rechts, in die Badergasse hinein. Ohne sich über den Weg zu
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