Das Bernsteinerbe
schmunzelte. Wie schnell hatte sie doch ihr Ziel erreicht: Christoph sah tatsächlich eine gleichwertige Ärztin in ihr!
»Wir müssen weiter.« Verlegen räusperte er sich. »Zum Glück hat es bei dem Spektakel hier im Hof bislang keine Verletzten gegeben. Doch wer weiß, wie es außerhalb des Schlosshofs aussieht. Die Altstädter und Löbenichter schauen sehr griesgrämig. Das verheißt nichts Gutes.«
»Wie sollte es auch«, meldete sich der Dürre noch einmal zu Wort. »Dafür hat doch der Kurfürst gerade das seine getan. Oder denkt Ihr, die Altstädter und Löbenichter sind stolz darauf, so schändlich eingeknickt zu sein und die Kneiphofer im Stich gelassen zu haben?«
Er drückte den Hut auf seinen Schädel und zog die Krempe tief ins Gesicht. Gleichzeitig wedelte er mit der Hand, als wollte er sie beide aus dem Schlosshof verjagen. »Geht nur. Ihr werdet gewiss noch anderswo gebraucht. Ich wünsche mir allerdings, auch da draußen warteten nur weitere Schwachbrüstige auf Euch. Gebe Gott, es kommt nicht schlimmer.« Ohne noch einmal aufzublicken, wankte er, sich mit einer Hand an der Mauer entlangtastend, von dannen.
»Also los dann«, sagte Christoph und fasste nach Carlottas Hand.
Sie kamen nur langsam voran. Die Leute drückten und schoben, gelegentlich schrie jemand auf, weil ein Fußtritt oder ein Ellbogen ihn traf. Weiterhin aber bestand nicht der geringste Anlass, das Wundarztbesteck zu zücken oder medizinischen Beistand zu leisten. Wem angesichts der Massen die Luft wegblieb, der wurde rasch an den Rand gebracht und konnte sich dort erholen. Schweigend trotteten Christoph und Carlotta nebeneinanderher. Am nordwestlichen Hofausgang quälte sich eine große Menschentraube auf den sehr schmalen Durchgang zu. Wollten sie nicht bis Sonnenuntergang im Hof gefangen sein, blieb ihnen keine Wahl, als sich dem Gedränge anzuschließen.
»Mir scheint, unser Patient hat recht. Sonderlich stolz zeigen sich die Altstädter und Löbenichter nicht auf ihre heutige Heldentat. Alle haben es furchtbar eilig, aus dem Schlosshof zu kommen«, raunte Carlotta Christoph zu.
»Du wirst sehen, sie erholen sich rasch von dieser Schmach«, verkündete Christoph und lächelte hintergründig. »So ehrfürchtig sie eben noch vor dem Kurfürsten das Knie gebeugt haben, so hoch tragen sie in wenigen Stunden oder Tagen ihre Nasen wieder durch die Luft. Noch mögen sie Angst haben, zu viel Zeit mit diesen Possen zugebracht zu haben, aber das machen sie bald wieder wett. Schließlich geht es darum, zu verhindern, dass ein Kneiphofer ihnen an der Börse zuvorkommt und ihre heutige Abwesenheit nutzt, ein lohnendes Geschäft abzuschließen.«
»Das sagst ausgerechnet du, der du selbst in der Altstadt wohnst.«
»Wer, wenn nicht ich als Altstädter darf so etwas sagen? Noch dazu, wo mein Vater als Leibarzt dem Kurfürsten nahesteht. Komm, dahinten geht es schneller.«
Entschieden zog er sie zu einem weiteren Ausgang am südlichen Ende des Hofes. Willig folgte sie ihm.
»Geschafft!«, verkündete er, kaum dass sie aus dem Tor auf den Platz südlich des Schlosses traten. Dort verliefen sich die vielen Menschen rasch. Erleichtert sahen Carlotta und Christoph sich an, hielten sich allerdings weiter fest an den Händen, als wollten sie einander nie wieder loslassen.
13
M anche der Herren, die gerade dem Schlosshof entronnen waren, suchten Zuflucht beim Gebet in der nahen Nikolaikirche. Andere eilten, wie von Christoph vorausgesagt, Richtung Kneiphof und damit zur Börse, um flugs ihre Geschäfte wieder aufzunehmen. Nur Einzelne verschwanden in den nahe gelegenen Bürgerhäusern, die an diesem Mittag leer und verlassen wirkten. Wieder andere eilten ostwärts, wo sie sich vermutlich im dortigen Rathaus des Beistands ihrer Standesgenossen versichern und über das weitere Verhalten dem Kurfürsten gegenüber beratschlagen wollten. Der bereits vor gut zwei Jahren einberufene Landtag dauerte schließlich weiterhin an und sah sich durch die jüngsten Ereignisse gänzlich neuen Bedingungen gegenüber.
»Und jetzt?« Christophs graue Augen funkelten vergnügt, als er sich breitbeinig vor Carlotta stellte, während er ihre zarte Hand in der seinen knetete. »Es sieht mir nicht danach aus, als bestünde die Gefahr, auf weitere Schwerverletzte zu stoßen.« Mit dem freien Arm vollführte er eine weit ausholende Bewegung, die nahezu das gesamte Rund des Platzes umfasste. »Damit ist unser tapferer Einsatz fürs Erste beendet. Trotzdem darfst
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