Das Bernsteinerbe
Türrahmen aus. Unwillkürlich zogen Schrempf und Grünheide die Köpfe ein. Ein studierter Medicus trat gemeinhin weniger polternd auf. Auch die drei Kontoristen duckten sich, lediglich Magdalena streckte den Rücken noch gerader durch.
»Gott zum Gruße, Kepler!«, rief sie dem jungen Medicus entgegen. »Welch seltener Besuch in unserem bescheidenen Kontor. Was führt Euch her?«
Christoph schenkte ihr ein scheues Lächeln und wandte sich nach einem knappen Gruß gleich an Carlotta: »Komm schnell mit mir! Es gibt großen Ärger in der Altstadt. Höchste Zeit, dass wir zum Schlosshof laufen und schauen, ob wir helfen können.«
»Mutter, du hörst es selbst«, wandte Carlotta sich an Magdalena. »Ich muss los. Ich bin Wundärztin. Ich muss dorthin, wo meine Hilfe gebraucht wird. Für mich gilt, was schon dein alter Lehrer, Meister Johann, einst gesagt hat: Ein Wundarzt muss immer helfen, wenn er gebraucht wird, ganz gleich, ob es um Freund oder Feind geht.«
»Das steht außer Frage, mein Kind«, warf Magdalena ein. »Wir aber sind keine Wundärzte mehr. Auf unsere Dienste ist man hier in Königsberg nicht angewiesen. Drüben in der Altstadt gibt es genug Wundärzte, die ihr Möglichstes tun werden. Du aber bist hier im Kneiphof ansässig. Es geht dich nichts an, was jenseits der Krämerbrücke geschieht. Ich möchte nicht, dass du dorthin gehst und dich einmischst. Du bleibst hier!«
»Das ist nicht dein Ernst!« Carlotta fand keine Worte mehr. Endlich fasste sie sich an die Brust, zog eine Schnur unter dem Mieder hervor und hielt der Mutter den Bernstein mit dem kleinen schwarzen Insekt dicht vor die Augen. »Du bist und bleibst eine Wundärztin, ganz gleich, wo man dich braucht und wo du lebst. Oder hast du so schnell vergessen, wer du einst warst und was dieser Bernstein dir einmal bedeutet hat?«
Magdalena erblasste. Sie schluckte und tastete ebenfalls mit den Fingern über ihre Brust. Unter dem Mieder aber verbarg sich schon seit vier Jahren kein Bernstein mehr.
»Geh wenigstens nicht mit Kepler, mein Liebes, egal, ob mit dem jungen oder dem alten. Du weißt, wie sehr diese studierten Medici uns und unsere Handwerkskunst verachten.«
12
N ach dem zähneknirschenden Willkommensgruß für den Kurfürsten dauerte es lang, bis sich die gewaltige Menschenmenge wieder vollends aus dem Schlosshof entfernt hatte. Schwankend zwischen Empörung und Enttäuschung, beobachtete Carlotta das träge Schauspiel. Die wenigen Frauen unter ihnen machten allesamt kaum Aufhebens um ihre Erscheinung, hatten sich schlicht gekleidet und schoben sich möglichst unauffällig im dichten Gedränge nach draußen. Die Männer dagegen betonten ihre bürgerliche Würde dem beschämenden Anlass zum Trotz. Die hohen Spitzhüte, die feinen dunklen Wollumhänge sowie die modischen Rheingrafenhosen oder engen Kniebundhosen ließen sie besonders vornehm erscheinen. Selbst diejenigen, die sich als Handwerker zu erkennen gaben, hatten sich in ihre Sonntagsgewänder geworfen. Ihr gefasstes Auftreten unterstrich die Ernsthaftigkeit des Geschehens. Zu Rangeleien oder gar Raufereien war es trotz der Enge und des offensichtlichen Missmuts über die Forderungen des Kurfürsten nicht gekommen. Auch war weder ein böses Wort noch ein Stein oder gar Übleres durch die Luft geflogen. Nicht einmal eine Faust war geballt oder sonst in irgendeiner Weise dem berechtigten Zorn über die erzwungene Schmach Ausdruck verliehen worden. Die Wundarzttasche hatte Carlotta vergeblich mitgenommen. Traurigkeit erfasste sie. Der Traum von ihrem mutigen Einsatz für das gefährdete Leben anderer an Christophs Seite war wie eine Seifenblase über Hedwigs Waschtrog zerplatzt. Ebenso bekümmerte sie die Einsicht, ausgerechnet deswegen einen Streit mit der Mutter vom Zaun gebrochen zu haben. Das war nicht nur unnötig, sondern sogar äußerst töricht gewesen: Gegen deren ausdrücklichen Willen mit Christoph zum Schloss geeilt zu sein, würde Magdalena nicht gerade für den jungen Medicus einnehmen. Dabei war ihr Groll dem alten Stadtphysicus gegenüber zuvor schon groß genug gewesen, die Keplers vorerst allesamt grundsätzlich abzulehnen. Christophs Auftreten hatte diese Haltung nur noch bestätigt. Wie wollte Carlotta da die Mutter je von seinen Vorzügen überzeugen, gar deren Segen für die Liebe zwischen ihnen beiden erlangen? Bekümmert suchte sie nach etwas, was sie tun konnte, um die düsteren Gedanken zu vertreiben.
Gelegenheiten für unerschrockene
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