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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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Holzpantinen in den rückwärtigen Teil des Erdgeschosses. Sehnsüchtig horchte Lina ihr nach. Als Einzige aus dem Gesinde verfügte die Alte über den Vorzug einer ebenerdigen Kammer im hinteren Flügel des Hauses. Lina und Milla dagegen mussten bis ganz oben unters Dach die Stiegen erklimmen.
    Sobald Lina hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, nahm sie die tropfnasse Bürste aus dem Wasser und schleuderte sie mit voller Wucht gegen die Wand. »Alte Vettel!«, zischte sie böse und spürte im selben Moment, wie die Anspannung aus ihrem drallen Körper wich.
    Laut schlug die Uhr in der Wohnstube im Obergeschoss neun. Auch die Damen Grohnert machten sich auf den Weg zur Nachtruhe. Verräterisch trippelten die Schritte über die Holzbohlen, Schranktüren gingen auf und zu, Stühle rückten, die Tür zur Diele wurde geöffnet. Was bis zum gestrigen Mittwoch unvorstellbar schien, setzte sich am heutigen Donnerstagabend fort: Die beiden schienen nur das Nötigste miteinander zu reden. Gebannt lauschte Lina nach oben, bis die Damen sich eindeutig in ihre Schlafgemächer zurückgezogen hatten. Traurig schüttelte sie den Kopf. Eine Frau wie Magdalena Grohnert wusste doch genau, was es hieß, jemanden zu lieben. Warum tat sie sich so schwer, das ihrer eigenen Tochter zuzugestehen? Sie schaute ins Leere der gegenüberliegenden Wand. Dort, wo die Bürste gegen die weiße Tünche geklatscht war, zeugte ein feuchter, schmutziger Fleck von dem Auftreffen. In braunen Schlieren tropfte das Wasser zu Boden.
    »Geht es dir jetzt besser?«, vernahm sie eine piepsige Stimme in ihrem Rücken. Auch das noch!, durchfuhr es sie, und sie drehte sich langsam zu Milla um. Wie befürchtet, kauerte die zierliche dreizehnjährige Magd, den Kopf ans Geländer gelehnt, auf der untersten Treppenstufe. Traurig hingen die dünnen braunen Haare um den kleinen Schädel. Die Beine hielt sie eng an den Bauch gezogen, die nackten Arme waren eng darum geschlungen. Der Stoff des groben dunklen Leinenkleides war sorgsam darübergedeckt. Lina seufzte. Wahrscheinlich hatte die Kleine die gesamte Begegnung zwischen Hedwig und ihr verfolgt. Mit weit aufgerissenen Kulleraugen schaute das Mädchen sie an. Gegen ihren Willen verspürte Lina Mitleid in sich aufsteigen.
    »Schnell, scher dich rauf in dein Bett«, riet sie und fuchtelte mit der rechten Hand durch die Luft, »sonst darfst du nicht nur den Abwasch übernehmen, sondern gleich auch noch die Wand gründlich schrubben.«
    Verärgert über ihre Nachsichtigkeit, wandte sie sich rasch ab. Der unschuldige Blick aus den Rehaugen war nicht lange zu ertragen.
    »Ich helfe dir wirklich gern.« Freudig sprang das Mädchen auf und kam zur Wand getrippelt. Ohne Aufforderung bückte sie sich nach der Bürste und warf sie in den Spülbottich zurück. Gleich tauchte sie auch noch die Finger in das heiß dampfende Wasser. Dabei zuckte sie nicht einmal mit der Wimper. Lina schnaufte ein weiteres Mal. Aus dem Mädchen wurde sie nicht schlau. Als gäbe es nichts Schöneres, als spät in der Nacht noch Töpfe und Teller in viel zu heißem Wasser zu wienern, versank sie geradezu gut gelaunt im Abwasch.
    »Bist du nicht müde?«, hakte Lina trotzdem nach. »In deinem Alter solltest du jede Stunde Schlaf nutzen.«
    »Warum tust du es nicht?« Milla schob die Zunge zwischen die Lippen und schrubbte besonders kräftig mit der Bürste auf einem Teller. »So viel älter als ich bist du schließlich auch nicht.«
    »Was?« Entgeistert starrte sie die Kleine an. »Hast du keine Augen im Kopf? Lang schon bin ich eine erwachsene Frau, hab sogar schon …« Trotz ihrer offenen Empörung verzichtete sie im letzten Augenblick darauf, ihre Mutterschaft zu erwähnen. »Außerdem bin ich von klein auf ans lange Arbeiten gewöhnt«, setzte sie matt nach.
    Gegen ihren Willen stand ihr die Zeit als Magd im Grünen Baum wieder vor Augen. Zwei Jahre jünger als Milla war sie gewesen, als der Vater sie seiner unbezahlten Zecherei wegen an die Wirtin verschachert hatte. An Nächte mit kaum mehr als drei, vier Stunden Schlaf hatte sie sich rasch gewöhnen müssen, oftmals noch verkürzt durch die heimlichen Besuche des Wirts. Er hatte damit nicht einmal warten wollen, bis ihr richtige Brüste gewachsen waren. Bei der Erinnerung an seine dicke, blau geäderte Nase und seine riesigen, gierigen Hände unter ihrem Rock schüttelte sie sich. Grübelnd schaute sie Milla an und erschrak. Die großen braunen Rehaugen ließen niemanden kalt, auch das

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