Das Bernsteinerbe
ungeschickte Hantieren der kleinen Hände und das hilflos nachgeahmte Bewegen einer Erwachsenen weckten seltsame Gefühle in ihr. So war sie damals auch gewesen. Auf einmal fragte sie sich, ob die Wirtin sie nicht genau deshalb ins Haus genommen hatte. Das Fortbleiben ihres Mannes aus dem Ehebett musste ihr schließlich aufgefallen sein. Lina seufzte. Vorbei und vergessen, sagte sie sich. Wettmachen ließ sich das ohnehin nicht mehr. Als Magd im Hause Grohnert blieben einem solche Erlebnisse wenigstens erspart. Eine Weiberwirtschaft hatte eben ihre Vorteile. Dagegen war die dicke Luft der letzten Tage wirklich lächerlich. Schwungvoll riss sie sich das Leintuch von der Schulter und pfefferte es über Millas schmächtige Gestalt hinweg in den Waschtrog. Abermals entstand eine Welle, klirrte das Geschirr laut gegeneinander. Verwundert schaute Milla auf.
»Lass nur, Kleines. Ich mach das jetzt wirklich lieber allein. Schlaf du dich aus.« Damit schob sie die Dreizehnjährige weg vom Bottich. Dabei achtete sie nicht darauf, ob Milla gerade etwas in der Hand hielt. Erst als der irdene Teller mit einem hellen Knall auf dem Steinboden in tausend Scherben zerbarst, wurde ihr das bewusst.
»O Gott!« Sofort schlug sich das Mädchen die Hand vor den Mund, Tränen traten ihr in die Augen, und sie bebte am ganzen Leib. »Nicht so schlimm«, knurrte Lina und ging in die Knie, die Scherben aufzusammeln. Kaum drehte sie eines der Stücke zwischen den Fingern, schauderte es sie. Es schien ihr kein Zufall mehr, dass Hedwig sie vorhin vor dem Zerbrechen eines Tellers gewarnt hatte. Den Streit hatte es bereits gegeben. Ein Schweißtropfen perlte von ihrer Nase auf die Scherbe. Fehlte nur noch, dass der Januar tatsächlich frostig kalt wurde, wie sie es zudem vorausgesagt hatte. Die schnaubende Alte war Lina nicht mehr lästig, sondern unheimlich.
»Was ist denn hier passiert?« Auf bloßen Füßen musste Carlotta lautlos die Treppe heruntergekommen sein. Plötzlich stand sie vor ihr und blickte auf sie herunter.
Stur starrte Lina die nackten Zehen an, wunderte sich, wieso der große kürzer war als der zweite – und das an beiden Füßen. »Lina?«, hörte sie Carlotta ein weiteres Mal fragen. Das Rascheln des Leinenhemds verriet, dass sie sich hinunterbeugte. Schon spürte Lina ihren Atem warm im Nacken. Langsam hob sie den Blick, stützte die Hand aufs Knie und hievte sich ächzend in die Hocke. »Geh«, raunte sie im Aufstehen leise Milla zu und schob sie mit der freien Hand fort. Dann erst legte sie die irdene Scherbe behutsam auf den frisch gewachsten Tisch.
»Das Wasser ist viel zu heiß«, erklärte sie und wedelte zur Bekräftigung durch den nicht mehr vorhandenen Dampf über dem Trog.
»Warum gießt ihr auch kochendes Wasser auf den Abwasch?« Prüfend wanderte Carlottas Blick durch die Küche, als suchte sie nach weiteren zerbrochenen Tellern oder anderen Belegen der Ungeschicklichkeit beider Mägde. »Seid froh, dass ich das entdeckt habe. Hedwig oder gar meine Mutter würden darauf ganz anders reagieren.«
Trotz ihrer zierlichen Erscheinung wirkte Carlotta respekteinflößend. Lina kam sich neben der zwei Jahre jüngeren und knapp einen Kopf kleineren Tochter der Patronin auf einmal wie ein ungehobelter Trampel vor.
»Du musst ins Bett, Milla.« Fast schon zärtlich fasste Carlotta das Mädchen am Arm und führte es zur Treppe. »Mach schon, sonst darfst du hier unten richtig arbeiten, bis dir die Augen zufallen.«
Flink huschte die Kleine die Treppe nach oben. Nicht eine einzige Stufe knarzte unter ihrem Fliegengewicht. Eine unheimliche Stille erfüllte nun das riesige Haus, lediglich unterbrochen vom Knistern des Herdfeuers. Der blakende Schein der Talglichter auf dem Wandbord reichte nicht aus, die geräumige Diele großzügig auszuleuchten. Die Pracht der roten Marmorsäulen, der kunstvoll geschnitzten Kassettendecke und der Wandvertäfelung aus kostbarem Nussbaumholz versank in der Dunkelheit. Wie ein schützender Kegel umschloss das Licht den Bereich um Waschbottich und Herdfeuer.
»Also los.« Lina staunte nicht schlecht, als Carlotta sich anschickte, die Hände in den Wassertrog zu stecken. »Vorsicht, heiß«, wollte sie rufen, doch für die Warnung war es zu spät. Carlotta hatte die Finger bereits eingetaucht und begonnen, mit der Bürste über die Teller zu schrubben. »Heiß ist es zum Glück nicht mehr«, erklärte sie und streckte Lina einen tropfenden Teller entgegen. »Willst du den nicht nehmen
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