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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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Geruch umfing den gemarterten Körper. Zunächst brachte Magdalena ihn mit den Kerzen in Verbindung, die das Bett in großer Zahl umstanden und Wäsche wie Patienten in ein zittriges Licht tauchten. Doch das Kerzenwachs war von reinstem Weiß, der süßliche Duft passte nicht dazu. Schon vermutete Magdalena, die Hausfrau wollte mit einigen Tropfen kostbaren Öls die stickige Krankenluft aus dem prunkvollen Schlafgemach vertreiben. Dann aber wurde ihr klar, dass Gerke den Duft selbst verströmte, obwohl angesichts der Krämpfe, die ihn heimsuchten, nichts ferner lag als die Vorstellung, er habe kürzlich erst ausgiebig gebadet.
    Voller Mitleid sah sie auf ihn hinab. Zur Seite eingerollt, ähnelte er mehr einem geschundenen Wurm denn einem menschlichen Wesen, am allerwenigsten dem ehrbaren Kaufmann und Ratsherrn, als den sie ihn vor mehr als vier Jahren bei ihrer Ankunft in Königsberg kennengelernt hatte. Der dank großer Lust am leiblichen Genuss einst feiste Bauch war verschwunden, die ehedem so prallen Wangen eingefallen. An den Armen hingen die überflüssigen Hautlappen traurig herab. Binnen weniger Wochen hatte sich der stolze Zunftgenosse in einen jämmerlichen Greis verwandelt.
    »Seit den frühen Morgenstunden geht das so?«, erkundigte sich Magdalena bei Gerkes Ehefrau Dorothea, die stumm neben ihr ausharrte. Als sie weiter schwieg, wandte sich Magdalena wieder dem Kranken zu.
    Sie begriff einfach nicht, was hinter den massiven Beschwerden steckte. Ihres Erachtens lag das nicht daran, dass sie in den letzten Jahren kaum noch Patienten kurierte. Dazu war sie sich des einst bei Meister Johann und der alten Hebamme Roswitha Gelernten zu sicher. Und doch spürte sie, wie weit ihr die Heilkunst nach Erics Tod entglitten war. Ihrem geliebten Gemahl hatte sie nicht helfen können. Worin lag also der Sinn, ihre Fähigkeiten weiter unter Beweis zu stellen? Hatte sie nicht letztens selbst Carlotta gegenüber ihr Wundarztsein für beendet erklärt? Es war ein Fehler gewesen, Gerkes inständigem Drängen nach Beistand nachgegeben zu haben. Unwillkürlich glitten die Finger ihrer rechten Hand über ihre Brust auf der vergeblichen Suche nach dem Bernstein, den sie so viele Jahre an einer Lederschnur um den Hals getragen hatte. Schmerzlich musste sie sich eingestehen, ganz auf sich gestellt zu sein.
    »Und Ihr seid Euch sicher«, hakte sie bei Dorothea nach, »dass Euer Gatte nichts Ungewöhnliches gegessen oder getrunken und keine unbekannten Tinkturen zu sich genommen hat?«
    »Gegessen hat er zum letzten Mal gestern Abend«, stellte die Hausfrau mit rauher Stimme fest. Hellhörig geworden, drehte Magdalena sich um. Dorothea entfuhr ein schnalzender Laut, dann hatte sie sich wieder im Griff. »Es war das übliche Nachtmahl: Käse, Brot, etwas Schinken und Wein, genau wie wir anderen. Seit Tagen fehlt ihm die Lust am Essen. Seht selbst, wie dünn er geworden ist. Ihr habt ihn auch anders gekannt.«
    Mit einem Mal blitzten ihre grünen Augen böse auf. Mit einem hämischen Lächeln um den Mund warf sie die vollen braunen Locken nach hinten, stemmte die Hände in die Hüften und schaute Magdalena von oben herab an. Für einen Moment überkam Magdalena das Gefühl, dasselbe schon einmal erlebt zu haben. Rasch schob sie die quälende Erinnerung beiseite. Sie musste Gerke helfen und durfte jetzt keinesfalls den dunklen Erinnerungen an ihre verschollene Base Adelaide nachhängen.
    »An Tinkturen nimmt er übrigens nur die seltsame Bernsteinessenz, die Ihr ihm verordnet habt«, erklärte Dorothea spitz. »Angeblich sollte der harzige Trank seine Beschwerden lindern. Aber was er bei ihm in Wahrheit auslöst, könnt Ihr gerade mit eigenen Augen bewundern: unermessliche Qualen! Seit Stunden nehmen die kein Ende. Und das alles nur Eurer seltsamen Tropfen wegen!«
    Die letzten Worte schleuderte sie Magdalena voll Abscheu entgegen. Die stämmigen Arme holten zu einer umfassenden Geste aus. Anklagend kamen die Fingerspitzen schließlich auf dem geplagten Kranken zur Ruhe. Eine Zeitlang verharrte die Frau so, dann klatschte sie die riesigen Hände wie zum Gebet vor dem Mund zusammen. »Was gäbe ich darum, er hätte niemals auf Euch gehört. Was hat ihm Eure Wunderessenz genutzt? Wegnehmen hätte ich sie ihm müssen! Die Freude an fettem Braten und gutem Rheinwein war sowieso verloren. Geblieben sind dagegen die Krämpfe und Schmerzen, die er eigentlich damit kurieren wollte. Immer schlimmer sind sie geworden! Wie ist er nur je auf die

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