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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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wehten herauf. Darüber legte sich das Heulen des Herbstwinds. An diesem vorletzten Oktobertag fegte er besonders heftig durch die Häuserschluchten und rüttelte an Türen und Fenstern, als wollte er Einlass begehren. Magdalena fröstelte, spürte ihn wieder am eigenen Leib, so wie vorhin, als sie auf nahezu menschenleeren Straßen durch das Schneegestöber zu Gerkes Haus gerannt war.
    »Ihr habt recht«, stimmte sie zu. »Jetzt sind sämtliche Brücken über den Pregel abgeriegelt. Für niemanden gibt es ein Durchkommen, nicht einmal für den Leibarzt des Kurfürsten. Aber warum habt Ihr nur so lange gewartet, bis Ihr nach Kepler geschickt habt? Wenn Euch so sehr an seinem Beistand liegt, hättet Ihr das gleich heute früh tun sollen. Da wäre der Physicus noch ohne Schwierigkeiten zu Euch gelangt. Jetzt ist es fast Mittag. Seit den ersten Krämpfen Eures Gemahls ist wertvolle Zeit verlorengegangen.«
    Sie streifte die Ärmel ihres Kleides bis zu den Ellbogen hoch und rieb die bloßen Handflächen schnell gegeneinander. Sie wollte den Kranken nicht mit eiskalten Fingern abtasten. Das würde ihm nur zusätzliche Pein bereiten.
    »Ihr wisst genau, wie sehr sich mein Mann gegen jegliche Hilfe der studierten Mediziner verwahrt, gerade gegen die von Kepler.« Dorotheas Stimme klang ungewohnt zaghaft. »Selbst nach all den Jahren trägt er ihm nach, Leibarzt des Kurfürsten geworden zu sein. In seinen Augen gehört sich das nicht für einen Königsberger Bürger. Erst als er nicht mehr dagegen aufbegehren konnte, habe ich vorhin das Nötigste veranlasst. Der Bursche ist sogar noch Richtung Altstadt losgelaufen, hat dann aber nicht mehr die Brücke über den Pregel betreten dürfen. Mir ist also nichts anderes übriggeblieben, als Euch herzubitten. Leicht ist mir das nicht gefallen, glaubt mir. Doch Ihr habt immerhin den Vorteil, gleich drüben in der Langgasse zu wohnen, im besten Haus am Platz.«
    Vergrämt kniff sie die Lippen zusammen. Magdalena seufzte. Das war es also! Dorothea zürnte ihr nicht ihrer angeblich fehlenden medizinischen Kenntnisse wegen, sondern weil sie das Singeknecht’sche Anwesen geerbt hatte. Um sich ihr Befremden nicht anmerken zu lassen, beugte sie sich tiefer als nötig über Martenn Gerke.
    Sein Stöhnen hatte aufgehört. Behutsam legte sie ihm die flache Hand auf die Stirn. Fieber hatte er keines. Auch glänzte die Haut nicht feucht von Schweiß. Dafür fielen ihr die großflächigen, hellbraunen Flecken auf, die den gesamten Kopf bedeckten. Sie strich das schüttere weiße Haar zurück. Die Flecken zogen sich über den gesamten Schädel. Angestrengt versuchte sie, sich in Erinnerung zu rufen, ob er die schon immer gehabt hatte. Sie vermochte es nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Mit dem Ohr dicht über seinem Rumpf, horchte sie nach seinem Atem. Er ging stoßweise. Sie schnupperte dicht über seinen Lippen, meinte, einen bitteren Hauch aus dem Mund zu erahnen. Dennoch zögerte sie, die Kiefer zu öffnen und sich die Farbe der Zunge anzusehen. Womöglich verstand Dorothea das falsch. Wenn doch nur Carlotta da wäre! Mit ihr könnte sie sich über die Ursache von Gerkes Qualen beraten. Die Siebzehnjährige besaß ein ausgezeichnetes Gespür für die inneren Krankheiten der Menschen. Ein Stich fuhr ihr in die Magengegend. Nein, es war gut, Carlotta nicht mitgenommen zu haben. Der Platz des Mädchens war ein für alle Mal im Kontor, vor allem angesichts ihres Ungehorsams letzte Woche.
    Dorothea wurde ungeduldig. Unheilvoll fiel der Schatten der großgewachsenen Frau auf das weiße Bettzeug, überdeckte Gerkes arg gemarterten Leib. »Wollt Ihr ihn nicht endlich zur Ader lassen?« Schneidend drang ihre Stimme in Magdalenas Ohr. »Das ist längst überfällig. Seht selbst, wie sehr er sich windet. All das Üble in seinem Blut muss raus. Nicht dass er gleich platzt! Gestern erst habe ich ihm geraten, zum Bader zu gehen. Mir ist unbegreiflich, warum er das nicht getan hat.«
    »Weil es nichts nützt«, erwiderte Magdalena. »Im Gegenteil: Es ist jetzt völlig falsch. In seinem Zustand Blut zu verlieren, schwächt ihn nur unnötig. Solange nicht sicher ist, was hinter seinem Leiden steckt, werde ich ihm diese Unbill ersparen. Wer weiß, wozu er sein Blut noch braucht.«
    Dorothea schnaubte unwirsch. Magdalena sparte sich eine Erwiderung. Stattdessen widmete sie sich dem Kranken. Unter Mühen gelang es ihr, ihn flach auf dem Rücken auszustrecken, damit sie seinen Leib abtasten konnte.
    »Und was ist

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