Das Bernsteinerbe
Idee verfallen, ausgerechnet Ihr könntet ihm helfen? Wer seid Ihr denn überhaupt?«
Sie stemmte die Hände in die breiten Hüften. Erneut wanderte ihr Blick prüfend über Magdalenas Gestalt. Günstig fiel das Urteil nicht aus, wie ihr Gesichtsausdruck verriet. Wie so oft hatte Magdalena auf Schmuck verzichtet, trug nur ein schlichtes, schwarzes Kleid. Die Witwenschnebbe hatte sie gleich beim Eintreten auf der Truhe neben der Tür abgelegt, das rotgelockte Haar fiel ihr offen über die Schultern. Unverhohlen erwiderte sie Dorotheas Blick und schürzte die ungeschminkten Lippen. Neben einer so stattlichen Erscheinung wie Dorothea wirkte jeder allzu leicht klein und schwach. Entschlossen straffte sie den Rücken.
»Es heißt, Ihr seid eine verdiente Wundärztin.« Abwehrend verschränkte Dorothea die Arme vor der Brust. »Aber wer weiß das schon so genau? Schließlich lebt Ihr erst seit vier Jahren hier bei uns im Kneiphof. Damals kamt Ihr mit Eurer Tochter buchstäblich aus dem Nichts, habt einfach behauptet, die langgesuchte, einzige Erbin von Paul Singeknecht zu sein. Und selbst wenn es stimmt und Ihr tatsächlich eine vielgerühmte Wundärztin seid, ändert das gar nichts. Ihr mögt zwar Erfahrung haben im Absägen von zerschossenen Armen und Beinen, das Therapieren kranker Menschen aber bedarf eines ganz anderen Wissens. Wie hat mein armer Gemahl nur glauben können, ausgerechnet Euer seltsamer Trank könnte seine Schmerzen lindern? Als Heilkundige seid Ihr hier in Königsberg zuallerletzt berühmt! Wieso ist er bloß zu Euch gegangen? Wahrscheinlich habt Ihr zum letzten Mittel gegriffen, um ihn zu überzeugen, und habt ihn verhext!«
Dicht baute sie sich vor Magdalena auf. Der Kranke im ausladenden Bett gab noch immer keinen Laut von sich, auch seine krampfartigen Bewegungen waren versiegt. Das Gesinde schien auf Zehenspitzen zu schleichen, aus Kontor und Lager drangen keinerlei Geräusche nach oben. Selbst der Sturm vor den Fenstern hatte sich für eine Weile gelegt. Die vielen Kerzen in dem riesigen Schlafgemach brannten mit ruhiger Flamme.
»Wäre mein armer Gemahl doch besser gleich zu Kepler gegangen.« Dorothea senkte den Blick, als gelte es, die Maserung der Holzdielen auf dem Boden um Rat zu fragen. »Der hat wenigstens ordentlich studiert und weiß, was im menschlichen Leib genau vor sich geht.«
»Warum habt Ihr nicht längst nach dem Stadtphysicus geschickt?«, fiel Magdalena ihr ins Wort, mahnte sich aber gleich wieder zur Ruhe. Sie durfte Dorotheas ungeheuerliche Vorwürfe nicht für bare Münze nehmen. Angesichts der Qualen ihres Gemahls war die Ärmste außer sich vor Sorge und wusste nicht mehr, was sie sagte. Bei Eric hatte Magdalena damals Ähnliches erlebt. Gab es etwas Schlimmeres, als hilflos mit ansehen zu müssen, wie der liebste Mensch auf Erden litt? Trotz dieser Einsicht beschlich sie ein seltsames Gefühl. Der beträchtliche Altersunterschied zwischen Gerke und seiner Gemahlin war nicht zu übersehen. Magdalena schätzte Dorothea in etwa auf ihr eigenes Alter, also Ende dreißig, wohingegen Gerke schon weit über sechzig Lenze zählen musste. Bei einem Mann dieses Alters musste man aufs Schlimmste gefasst sein. Fast zwanzig Jahre waren die beiden verheiratet, kannten einander zur Genüge, um jedes Zwicken und Jammern des anderen richtig einzuschätzen. Umso erstaunlicher, dass Dorothea so lange gezögert hatte, sachkundige Hilfe zu holen.
»Natürlich habe ich Kepler längst rufen wollen«, erwiderte die Kaufmannsgattin und zupfte ein spitzenumranktes Leinentuch aus dem linken Ärmel ihres knisternden Taftkleids. Sofort verstärkte sich der süßliche Duft im Raum. Erleichtert atmete Magdalena auf. Im Gerke’schen Haushalt wurde das Weißzeug mit Duftwasser gewaschen. Das erklärte den süßlichen Geruch im Bett des Kaufmanns. »Leider ist es dem Stadtphysicus heute unmöglich zu kommen«, sagte Dorothea. »Schaut nur aus den Fenstern, dann wisst Ihr, was in der Stadt los ist.«
Bedächtig trat sie zum mittleren der drei Bogenfenster, die zur Magistergasse hinausgingen. Ihre großgewachsene, für eine Frau recht kräftige Gestalt nahm fast die gesamte Fensterbreite ein. Sie lehnte sich leicht nach vorn und berührte mit der Nasenspitze den geschwungenen Griff am Fensterkreuz und schaute hinaus. Erst da wurde Magdalena des Lärms gewahr, der von der Straße in das Schlafgemach drang. Pferdegetrappel, Knirschen von Wagenrädern über die sandigen Pflastersteine, aufgeregte Rufe
Weitere Kostenlose Bücher