Das Bernsteinerbe
sein. Mitten auf der Straße blieb sie stehen, haderte mit sich. Wieder erklang Lärm. Ein weiterer Dragoner jagte, vom Schmiedetor kommend, seinen Kameraden hinterher. Erschrocken sprang Carlotta beiseite und drückte sich flach gegen die nächste Hauswand. Im Gefolge des Reiters donnerte ein riesiger Bagagewagen über das Pflaster, gezogen von vier kräftigen Armeepferden. Kaum gelang es dem finster aussehenden Fuhrmann, die kräftigen Pferde mitsamt dem schweren Wagen um die Kurve zur Alten Domgasse zu lenken.
Dieser letzte Montag im Oktober ließ es also wahrlich nicht bei dem schlechten Wetter bewenden. Zu Recht hieß es, an einem Montag dürfe man nichts Neues beginnen, was von langer Dauer sein sollte. Wie töricht von Christoph und ihr, den Stadtphysicus ausgerechnet an diesem Tag für die Idee, medizinische Schriften gemeinsam bei ihm studieren zu dürfen, gewinnen zu wollen. Noch dazu, wo es hieß, dass man auch nicht darauf zu hoffen brauchte, am Montag sonderlich Erquickliches zu erleben. Allein schon das verschlossene Gesicht der Mutter beim morgendlichen Imbiss hätte sie warnen müssen. Sie nieste laut.
»Gesundheit, wertes Fräulein!« Wie aus dem Nichts tauchte eine dunkel gekleidete Gestalt auf und lupfte den breitkrempigen Hut. »Wer an einem Montag niest, wird eine schöne Überraschung erleben.«
»Wie könnt Ihr …« Sie wandte sich um, den Fremden genauer anzusehen, doch er eilte bereits davon. Kopfschüttelnd ging sie weiter und stieß kurz darauf mit einer weiteren Gestalt zusammen. »Obacht!«, entfuhr es ihr verärgert, und sie fragte sich, woher auf einmal all die Leute kamen. Eben noch war sie allein in den Gassen gewesen. Statt sich für die Unachtsamkeit zu entschuldigen, zog der Mann den Hut tiefer ins Gesicht und vergrub das Kinn vollständig im Wollschal, um sich unerkannt davonzustehlen. »Tölpel!«, zischte sie.
Die Gasse füllte sich weiter mit Menschen. Wie Mäuse krochen sie aus gut verborgenen Löchern und eilten allesamt westwärts, zur Langgasse hinüber. Ein gutes Dutzend mochten es bald sein. Die dunkel gekleideten Männer erinnerten an Fledermäuse. Ihre weiten Wollumhänge flatterten im Wind, die hohen Hüte drückten sie mit den Händen fest auf den Kopf.
»Wo brennt es?«, rief sie einem der Männer zu und dachte bang an die preußischen Dragoner und ihren trutzigen Rüstwagen. »Beiseite!« Barsch schob er sie fort und rannte weiter. Sie landete in einer Pfütze. Die dünne Eisschicht auf dem Wasser brach ein. Knöcheltief versank sie im Schlamm, spürte die Nässe in die Schuhe dringen und das vor Kälte schützende Stroh darin aufweichen.
Das Getöse auf dem nahen Petersplatz schwoll an. Der mächtige Fuhrwagen musste dort mittlerweile angekommen sein. Das Knirschen der Eisenräder war verstummt. Flüche wurden laut, Schreie gellten auf. Möglicherweise war das riesige Gefährt in einer Durchfahrt stecken geblieben und hatte sich verkeilt. Oder aber die Pferde wollten einfach nicht mehr weiter. Angespannt lauschte sie nach Osten. Das Heulen des Windes wurde lauter, überdeckte das aufgeregte Wortgeplänkel.
»Nicht stehen bleiben, Mädchen«, riet ein hagerer Mann und packte Carlotta energisch am Arm, um sie mit sich fortzuziehen.
»Lasst mich los«, wehrte sie sich.
»Ist schon gut, ich passe auf sie auf«, hörte sie eine vertraute Stimme dicht neben ihrem Ohr. Dankbar spürte sie Christophs warmen Atem im Nacken. Wenigstens das Niesen vorhin hatte ihr also Glück gebracht. Ihre Wangen glühten. Die Schneeflocken schmolzen darauf zu kleinen Rinnsalen. Christoph hielt sie einfach fest und suchte den Blick ihrer Augen. Nur zu gern versank sie in den seinen, vergaß darüber beinahe den Aufruhr um sich herum.
»Vertrau mir.« Zärtlich legte er ihr den Arm um die Schultern. Als sie den Blick hob, lächelte er. »Die Preußen haben die Schmiedebrücke und die Honigbrücke vollständig abgeriegelt. Deshalb rennen alle zur Langgasse, um von dort über die Krämerbrücke oder die Langgassenbrücke aus dem Kneiphof zu entkommen. In keinem Fall können wir pünktlich bei meinem Vater sein. Ich wette, nicht einmal dir dürfte es gelingen, den preußischen Dragonern die Stirn zu bieten und von ihnen Durchlass zu erzwingen. Obwohl, einen Versuch wäre es wert. Möglicherweise reicht es, wenn du böse schaust, um die tapferen Soldaten in die Flucht zu schlagen.« Wieder grinste er.
»Ich bin mir nicht sicher, ob die Kurfürstlichen kleine rotblonde Frauen ebenso
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