Das Bernsteinzimmer
schickte Joe Williams einen kleinen Brief an seinen Daddy mit der lapidaren Mitteilung:
Lieber Dad,
Dein Joe lebt. Für heute nicht mehr. Du hörst bald von mir Genaueres. Warte und frage nicht. Dein Jonnyboy .
In Whitesands schlug der Brief wie eine Bombe ein, aber man verhielt sich still. Der alte Williams sprach nicht darüber. Mrs Williams begann in der von ihnen gestifteten Kirche jeden Tag zu beten, die Marmorsäule blieb stehen und wurde wie bisher mit frischen Blumen geschmückt. Aber sonst hielt sich der Alte einen Teufel an die Bitte seines Sohnes. Er machte einen umfangreichen Apparat von Privatdetektiven und Agenten mobil, ließ seine Beziehungen spielen und kurbelte eine Suchaktion ohne Beispiel an.
Umsonst. Joe, der seinen Vater genau kannte, hatte den Brief natürlich nicht in Frankfurt zur Post gegeben, sondern war extra dafür nach Hamburg gefahren und hatte ihn dort in den Kasten der Bahnpost gesteckt. Hamburg aber war englisch besetztes Gebiet … die Suche des alten Williams lief sich tot.
Larry verzichtete auf Nachricht. Die wäre auch nie angekommen – sein Vater, der Leichenwäscher, starb an Kehlkopfkrebs, ihm folgte Anfang 1947 Larrys Mutter an Herzversagen. Seit Larrys Todesnachricht war sie immer weniger geworden, wie eine abbrennende Kerze. Der Tod ihres Mannes blies die Kerze aus.
Die verschüttete Höhle im Vogelsberg-Gebiet war bis jetzt nicht entdeckt worden. Der Eingang war in den beiden Jahren zugewachsen, die Höhle lag sowieso an einer Stelle, an die kaum ein Wanderer kam und die auch für das Forstamt uninteressant war. Die krüppeligen Bäume lohnten keinen Holzeinschlag.
Das Bordell in Frankfurt blühte. Brooks und Williams waren zufrieden. Sie hatten Zeit, und die Zeit half ihnen. Das Bernsteinzimmer geriet in Vergessenheit. Wichtigere Probleme bestimmten das Geschehen: der Aufbau Europas.
Das Bernsteinzimmer nahm ihnen keiner mehr weg.
Kleine Irrtümer merkt man gleich, große Irrtümer bedürfen der Reifung.
Vieles hatte sich geändert seit dem Tag im Jahre 1945, an dem Michael Wachter und Jana Petrowna am Eingang von Reinhardsbrunn standen und dann mit einem vom Ortskommandanten geliehenen Jeep resignierend zurückgefahren waren. Die letzte Spur hatte ihnen eine alte Köchin des Schlosses gegeben: In den Bogengängen unter dem Ahnensaal des Schlosses hätten Anfang 1945 zwanzig große Kisten gelagert. Im Schloß erzählte man sich, daß sie aus Königsberg stammten, wie es ja auch auf den Deckeln stand: Wasserbaubehörde Königsberg, aber daß sie nichts mit einer Behörde zu tun hatten, sondern das berühmte Bernsteinzimmer enthielten. Und weiter erfuhr Wachter von der Köchin, daß die Kisten später in das weitverzweigte unterirdische Bunkersystem des neuen Führerhauptquartiers ›Wolfsturm‹ gebracht werden sollten oder nach Saalfeld. Dort hatte Gauleiter Koch nach seiner Flucht aus Königsberg über Pillau sein neues eigenes Hauptquartier aufschlagen wollen … einerseits, um in der Nähe seines Führers zu sein und damit in Bormanns Nähe, andererseits, um ›sein‹ Bernsteinzimmer nicht aus den Augen zu verlieren. Hitlers und Kochs Pläne wurden durch den schnellen Vormarsch der Amerikaner und der Russen vereitelt – die unterirdischen Anlagen wurden nie bezogen. Aber die zwanzig Kisten, so erzählte die Köchin, waren noch da gewesen, im Bogengang. Dann kamen zwei große Lastwagen mit dem Roten Kreuz und der Rote-Kreuz-Fahne, luden die Kisten auf und fuhren davon. Wohin, das wußte sie nicht, das wußte niemand. Auffällig war nur, daß die Rote-Kreuz-Wagen von SS-Offizieren gefahren wurden. Hohen Offizieren, sagte die Köchin. Sie habe gehört, wie ein Soldat, stramm stehend, gerufen hatte: »Jawoll, Herr Standartenführer.«
Wachter und Jana waren sofort nach Saalfeld gefahren, aber in Saalfeld waren die Kisten nie angekommen. Die Spur verrann wie ein Wassertropfen in der Wüste.
»Es ist in der Nähe«, hatte Wachter zu dem Ortskommandanten von Friedrichroda, zu dem Schloß Reinhardsbrunn gehörte, gesagt. »Ich wittere es wie ein Wolf! Es ist hier … im weiten Umkreis … aber es ist da! Irgendwo haben sie es versteckt.«
Der Kommandant, ein Oberstleutnant der 3. US-Armee, sah an Wachter und Jana vorbei an die Wand, an der ein Bild des seit kurzem zum US-Präsidenten gewählten Harry S. Truman hing. Jana, die ihn aufmerksam beobachtete und in seinem Gesicht zu lesen schien, sagte plötzlich:
»Sie wissen mehr, als Sie uns sagen. Was wissen Sie
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