Das Bernsteinzimmer
›seinem‹ Bernsteinzimmer. Martin Bormann war nicht zu erreichen, weder in Rastenburg im Führerhauptquartier, noch in der Parteikanzlei. Ihn privat in seiner Villa auf dem Obersalzberg anzurufen, wo Bormann neben Göring und Himmler auf einem Hügel mit wundervoller Fernsicht wohnte, wagte er nun doch nicht.
Erst am 22. September bekam Koch nach lautem Gebrüll mit einem Adjutanten Martin Bormann ans Telefon und trug ihm seine Vorschläge vor. Bormann, der gerade von Hitlers Mittagstafel kam, schien ein offenes Ohr für Kochs Vorstellungen zu haben.
»Der Führer hat eben von den Museen in und um Leningrad gesprochen«, sagte er. »Die noch vorhandenen Kunstschätze sollen selbstverständlich gerettet werden. Auf Wunsch des Führers hat Generalfeldmarschall Keitel sofort eine Weisung an die Heeresgruppe Nord erlassen, den bronzenen Neptunbrunnen im Oberen Garten von Schloß Peterhof auszubauen. Ein Nürnberger Bildhauer aus dem 17. Jahrhundert hat ihn geschaffen, und der Führer sagt ganz richtig: Er gehört nach Nürnberg! Er wird sofort zusammen mit der berühmten Samsonstatue und anderen Figuren der großen Kaskade ausgebaut. Das Bernsteinzimmer … hm, ich werde mit dem Führer darüber sprechen. Warten Sie weitere Weisungen ab, Gauleiter.«
Hoffnungsfroh legte Koch auf. Kein striktes Nein … das bedeutete ein halbes Ja. Rosenberg, Ribbentrop, Göring und alle anderen Interessenten schienen ausgeschaltet. Der ›König von Ostpreußen‹ besaß den besseren Draht zum Führerhauptquartier.
Inzwischen ärgerte sich Major Müller-Gießen gründlich und fand sich nur schwer mit seiner Enttäuschung ab. Er hatte mit seinen Kunstexperten ein paar Zimmer im Sommerpalais des Zaren Alexander bezogen, hatte sich gebadet und die Uniform von seinem Burschen ausbürsten lassen, aß vorsorglich vier Spiegeleier und trank eine halbe Flasche Rotwein dazu und fühlte sich danach kräftig genug, das hübsche Schwesterchen herumzuführen und – wie versprochen – ihr alles zu zeigen. Die Erinnerung an seine französischen Erlebnisse machte ihn geradezu beschwingt.
Im Bernsteinzimmer aber traf er das tolle Schwesterlein nicht an. Der widerliche Zivilist, dieser Russendeutsche Wachter, saß auf einem Hocker neben der Tür und wartete auf ihn. Müller-Gießen blieb ruckartig stehen.
»Was machen Sie hier?« fragte er schnarrend. »Sie sind Ihrer Aufgabe, auf das Zimmer aufzupassen, enthoben!«
Michael Wachter verzichtete darauf, mit Müller-Gießen über dieses Thema einen Streit anzufangen. Höflich erhob er sich von seinem Sitz und sagte:
»Ich soll Ihnen mitteilen, Herr Major, daß Schwester Jana nicht kommen kann.«
»Ach!« Müller-Gießen schnaufte durch die Nase. »Das kann sie mir nicht selbst sagen?«
»Dann wäre sie ja hier.«
»Und wo ist sie?«
»Das weiß ich nicht. Sie muß dringend in ein Lazarett, sagte sie.«
»In welches?«
»Das hat sie nicht gesagt. Ich habe auch nicht gefragt, sie war sehr in Eile.«
»Scheiße!« Müller-Gießen stampfte im Bernsteinzimmer hin und her, versuchte, seine Enttäuschung zu dämpfen, gab sich dann einen sichtbaren Ruck und verließ grußlos den Saal. Er fragte sich im Schloß durch, bis er den Oberstarzt im Stabe der Division gefunden hatte und bat um Auskunft.
»Wieviel Lazarette haben wir in Puschkin?« sagte er.
»In Puschkin selbst oder auch in der Umgebung?«
»Im näheren Gebiet, Herr Oberstarzt.«
»Oje! So aus dem Ärmel schütteln kann ich das nicht. Mit den zurückliegenden Hauptverbandsplätzen, Krankensammelstellen und Feldlazaretten könnten es im Gebiet um Puschkin mindestens neunzehn sein.« Der Oberstarzt sah Müller-Gießen verwundert an. »Wozu wollen Sie das wissen?«
»Es geht mir darum, ob Lazarette in Schlössern eingerichtet sind, in denen sich noch wertvolle Kunstschätze befinden«, sagte Müller-Gießen glaubwürdig. Seine Enttäuschung wuchs. Neunzehn mindestens … unmöglich, sie alle abzuklappern und das Schwesterchen zu suchen. Jana hieß sie. Ein Name, so schön wie sie selbst. Jana, das paßte genau zu ihr. Jana …
»Unsere Ärzte und Sanitäter interessieren sich für die Verwundeten, nicht für Gemälde oder Antiquitäten.« Der Oberstarzt wurde verschlossener. Müller-Gießen sah ein, daß es keinen Sinn hatte, noch mehr zu fragen. Vorbei, dachte er bitter. Vorbei, ohne daß es angefangen hat. Übermorgen mußte man weiter nach Petrodworez, wo der Sonderführer Dr. Hans-Heinz Runnefeldt den Neptunbrunnen ausbaute. Er
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