Das beste Rezept meines Lebens: Roman (German Edition)
Darin befand sich ein dickes Blankobuch, dessen Umschlag mit einem venezianischen Muster in Grün- und Blautönen verziert war. Auf der ersten Seite stand eine Widmung in Lollys selbstbewusster, anmutiger Schönschrift:
Liebe Annie,
ein Rezeptbuch für die nächste Generation – vielleicht ist es doch an der Zeit, neue Traditionen zu beginnen.
In Liebe
Lolly St. Clair
P.S. Ich glaube weiter fest daran, dass sich das Buch deiner Mutter schon bald zu diesem hier gesellen wird.
»Es ist wunderschön«, sagte ich.
»Ja«, stimmte Julia mit einem Seufzer zu. »Trotzdem schade.«
Zum ersten Mal in diesem Monat wirkte Julia bedrückt. Ohne jede Begeisterung hakte sie die Punkte auf unserer Agenda ab, und selbst die Aussicht auf zusätzliche Einnahmen durch den bevorstehenden Valentinstag schien sie nicht aufheitern zu können. Am meisten Sorgen machte mir, dass sie ihren Cupcake nach dem ersten kleinen Bissen nicht mehr angerührt hatte. Und obwohl mich der Anblick ihrer perfekt manikürten Fingernägel nicht mehr so aufregte wie früher – welches produktive Mitglied unserer Gesellschaft hat denn bitte schön Zeit für wöchentliche Sitzungen im Nagelstudio? – , strapazierte es meine Geduld doch sehr, dass besagte perfekte Fingernägel fünf Minuten lang ununterbrochen auf den Tisch trommelten. Da halfen alle guten Neujahrsvorsätze nichts.
»Okay, raus mit der Sprache«, sagte ich schließlich und klappte ihren Laptop zu, bevor sie protestieren konnte. »Ich werde mir keine Marketingstrategien anhören, solange du mir nicht sagst, was los ist. Seit Wochen schwebst du auf Wolke sieben, und jetzt machst du plötzlich ein Gesicht, als hätte dir ebendiese Wolke die Stimmung verhagelt. Also, spuck’s aus.«
Julia seufzte. »Ist das so offensichtlich?«, fragte sie. »Früher konnte ich mich doch immer auf mein Pokerface verlassen. Aber dir entgeht wohl nichts, oder?«
»Du vergisst, dass ich einen Laden zu schmeißen habe. Da bleibt keine Zeit zum Achterbahnfahren.«
Julia biss sich auf die Unterlippe und wandte den Blick ab. Eine Sekunde lang fragte ich mich, ob etwas im Treat vorgefallen war, von dem sie mir nichts gesagt hatte. Soweit ich wusste, hatte es keine weiteren Einbrüche gegeben, und der Typ in dem Kapuzenpulli war auch nicht mehr aufgetaucht. Wir hatten Inspector Ramirez’ Rat beherzigt und eine Überwachungskamera installieren lassen, doch bislang hatte sie tagsüber nur unsere Kunden aufgezeichnet und einen leeren Raum bei Nacht. Mittlerweile waren Julia und ich wieder etwas entspannter, auch wenn ich mir eingestehen musste, dass ich manchmal noch ein mulmiges Gefühl hatte, wenn ich aus dem Fenster auf die Straße hinaussah oder allein in meinem Viertel unterwegs war. Aber ich schrieb diese Unruhe lieber meinen empfindlichen Nerven zu, als ernsthaft daran zu glauben, dass ich beobachtet wurde.
Zu meiner Überraschung hatte Julias Niedergeschlagenheit allerdings nichts mit dem Treat oder etwaigen Einbrüchen zu tun.
»Es ist wegen meinem Dad«, gab sie leise zu. Sie erzählte mir, dass Tad in letzter Zeit etliche Dinge verlegt hatte, die nie wieder aufgetaucht waren, und das war so untypisch für ihn, dass sie sich Sorgen um ihn machte. Mir fiel wieder ein, wie sie mich vor Monaten in der Küche ihrer Eltern gefragt hatte, ob er mir irgendwie komisch vorgekommen sei. Ich weiß noch, dass ich ihn damals etwas gesprächiger fand, als ich ihn in Erinnerung hatte, was mir aber nicht weiter erwähnenswert erschien. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie besorgt Julia da schon gewesen war. Sie erzählte mir, dass er sich vor einigen Tagen auf Alzheimer hatte testen lassen.
»Aber er ist völlig gesund.« Sonderbarerweise sagte sie das mit einem gequälten Lächeln. »Die ersten Befunde haben nichts Ungewöhnliches ergeben. Der Arzt meint, das ist nur altersbedingte Vergesslichkeit.«
»Aber darüber müsstet ihr doch froh sein, oder?«, fragte ich verwundert.
»Klar. Nur eins macht mir zu schaffen«, sagte sie und zögerte, bevor sie weitersprach. »Die ganze Zeit habe ich gedacht, dass ich mir Sorgen um meinen Dad machen muss. Wenn das unbegründet ist, um wen sollte ich mir dann Sorgen machen?«
»Ich kann dir nicht ganz folgen.«
»Na ja, diese Dinge, die er angeblich verlegt hat – die sind alle sehr wertvoll. Ihm fehlen nicht etwa sein Stift oder seine Brille, sondern nur Schmuck und Bargeld.«
Ich sah sie nachdenklich an. »Du vermutest also, dass ihn jemand beklaut?«
Julia seufzte.
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