Das beste Rezept meines Lebens: Roman (German Edition)
Bemerkung hingegen fand ich übertrieben, denn unter Kontrollverlust litt ich meiner Meinung nach kein bisschen, im Gegenteil. Ich war mir sicher, mich bestens unter Kontrolle zu haben, und empfand eine kindische Freude deswegen, als wäre es ein Art Initiationsritus ins Erwachsenenleben, in betrunkenem Zustand Geschäftstermine zu absolvieren und dabei souverän zu bleiben.
Als die Party langsam begann sich aufzulösen, hatte ich zum ersten Mal an diesem Abend das Gefühl, Luft zum Atmen zu haben. Wes erschien wieder an meiner Seite – wo hatte er eigentlich die ganze Zeit gesteckt? Der Mann konnte wirklich mit jedem reden.
»Ich habe Annie kennengelernt«, sagte er. »Das Mädel hat echt Humor. Du hast mir gar nicht erzählt, was für eine Stimmungskanone sie ist.«
»Allerdings«, sagte ich. »Vor ihr ist keiner sicher. Nimm dich besser in Acht.«
Wes warf mir einen rätselhaften Blick zu. »Julia«, sagte er, »ich glaube, du hast ein bisschen zu viel getrunken.«
»Nein, mir geht’s gut.« Ich sah nach unten, klaubte einen Fussel vom Dekolleté meines schwarzen Cocktailkleids und hielt ihn Wes hin, als wäre er ein Beweisstück für irgendetwas. Nach kurzem Zögern nahm er ihn mir ab und ließ ihn auf den Boden fallen.
»Soll ich dich nach Hause bringen? Mein Auto steht gleich hier in der Straße. Die letzten Gäste kann Annie bestimmt auch alleine verabschieden.«
»Was redest du da? Ich kann jetzt nicht gehen! Das ist mein Laden!« Sofort war die gereizte Stimmung von vorhin wieder da. Mir wurde klar, dass es mir in letzter Zeit oft so ging, wenn ich mit Wes zusammen war. Da war ich wochenlang allein und musste alle meine Ängste und Probleme mit mir selbst ausmachen, und er dachte, er könnte mal eben so ankommen und sich um mich kümmern, wenn es ihm gerade in den Kram passte? Dass er von meinen Ängsten überhaupt gar nichts wusste, war keine Entschuldigung.
Mehr bekam Wes von meinem Zorn allerdings nicht zu spüren, denn in diesem Moment trat ein Mann zu uns, der mir schon den ganzen Abend über in der Gruppe von Köchen und Bäckerinnen, die Annie eingeladen hatte, aufgefallen war. Der Mann hatte sandfarbene Haare und war kräftig gebaut; zwischen den vielen Hipstern mit ihren engen Hosen und Intellektuellenbrillen wirkte er wie ein Fremdkörper, doch das schien ihm nichts auszumachen. Ist er etwa auch ein Journalist? Obwohl ich das bezweifelte, setzte ich sicherheitshalber mein liebenswürdigstes Lächeln auf.
»Sie sind Julia, nicht wahr?«, fragte er.
»Ja. Julia St. Clair. Und das ist Wesley Trehorn«, sagte ich. Ich stellte Wes bewusst nicht als meinen Verlobten vor, und aus dem Augenwinkel sah ich, dass dieser Pfeil getroffen hatte.
»Freut mich sehr. Ich bin Ogden Gertzwell.« Nachdem ich den ganzen Abend lang irgendwelchen mir völlig unbekannten Schleimern die schlaffe Hand geschüttelt hatte, fühlte sich Ogdens Händedruck angenehm warm und fest an.
Aha , dachte ich. Der Biobauer . Ich fuhr die Wärme meines Lächelns um ein paar Grad herunter. Annie hatte mir ihren Ausflug auf die Gertzwell Farm in allen Einzelheiten geschildert. In ihrer unnachahmlichen Art hatte sie Ogden als rechthaberischen Langweiler beschrieben, der seine Energie lieber in langatmige Belehrungen steckte, anstatt sie für den Betrieb seiner Farm zu nutzen. Allerdings hatte sie nicht erwähnt, wie gut er aussah. Zumindest wenn man stattlichen Männern mit großen Nasen und fetten Bizeps etwas abgewinnen konnte.
»Einen Ogden trifft man nicht alle Tage«, sagte Wes und erwiderte den kräftigen Händedruck des Farmers.
»Ogden, der Herr der köstlichen Birnen«, sagte ich und musterte seine grob gerippte Cordhose, die an den Knien schon ganz blankgescheuert war, das simple schwarze T-Shirt, das sich über seinen breiten Schultern spannte, und seinen stillen, nachdenklichen Blick. »Wie ich höre, können wir uns geehrt fühlen, Ihre edlen Früchte unter die Leute bringen zu dürfen.«
Ich sah, wie sich Ogdens Gesicht vom Nacken aufwärts etwas rot färbte. Er sah Wes an. »Ogden Nash«, erklärte er. »Meine Mutter hat eine Vorliebe für scherzhafte Gedichte.«
»Reklametafeln sind wohl kaum / so herzerfreuend wie ein Baum. / Ja, lässt man diese Tafeln stehn, / bekomm ich keinen Baum zu sehn«, zitierte Wes voller Pathos.
Während sich die beiden Männer anerkennend ansahen, hätte ich am liebsten die Augen verdreht.
»Haben Sie Annie schon gesehen?«, fragte ich.
»Gesehen schon, aber nicht
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