Das Bett
sie sah, denn sie bemerkte, daß ihr die Äbtissin nicht antwortete, sondern unerbittlich den Ritus fortsetzte, indem sie jede Seite einen genau gleichen Zeitraum lang aufgeschlagen hielt, ohne Rücksicht darauf, ob auf ihr |139| viel oder wenig zu sehen war. Wir beugten unsere Köpfe vor dem Buch, sie überragte uns und blickte aus dicken Brillengläsern auf uns herab, hinter denen ihre Augen nicht zu erkennen waren. Ich fürchtete, daß sie auch unheilvolle Erfahrungen mit dem Buch gemacht hatte, über die sie jedoch nicht mit uns sprach, denn es ging offenbar jeder ein wenig verändert aus dem Anblick des Buches hervor. Und als sie es schließlich zuschlug, kam mir das Gitter, hinter dem sie sich mit dem Buch befand, nicht mehr zwecklos vor: Es hatte dieselbe Funktion wie die Käfige im Zirkus, in denen ein todesmutiger Dompteur ein reißendes Tier vorführt, dessen Gehorsam trügerisch ist. Ich schrak bei dem Zuklappen des Buchdeckels zusammen, weil im selben Augenblick meine Tante eine Tür hinter uns geöffnet hatte und ins Zimmer trat.
Es war naheliegend, daß ich ihr Erscheinen mit ›Wisse die Wege‹ in Verbindung brachte, als ob das Buch nach seiner vollständigen Betrachtung ihr Erscheinen erzwungen habe. Ich dachte mir, daß meine Tante in diesem Haus in einer geheimnisvollen, halb freiwilligen Gefangenschaft gehalten würde, wie sie bei Parsifal und seinen Rittern vorkam, und ich lag mit meiner kindlichen Vermutung von der Wahrheit nicht weit entfernt, denn meine Tante sehnte sich nach einem Gefängnis, in dessen steinerner Zelle sie Ruhe finden konnte, und fühlte sich in Eibingen mit diesem Wunsch fast am Ziel.
›Wisse die Wege‹ wurde nun fortgetragen. Die Äbtissin reichte wieder ihre Hand durch das Gitter und verabschiedete uns freundlich. Zu meiner Tante war sie spürbar strenger. Ihre Worte klangen wie das letzte Kapitel eines peinlich-eindringlichen Vortrags. Als wir das Kloster verließen, stellte sich heraus, daß meiner Tante, trotz ihres wochenlangen Aufenthaltes in der Klausur, ›Wisse die Wege‹ nicht gezeigt worden war.
Als Florence meine Tante am Tag nach ihrer Ankunft zum erstenmal sah und begriff, daß es sich um die Briefschreiberin handelte, verbarg sie ihre Überraschung nicht. Sie hatte sich zwar keine genaue optische Vorstellung von ihr gemacht, weil sie zu sehr mit der Exegese des Briefes beschäftigt war, aber sie hatte |140| ein derart festes Bild von Stephans Geschmack, daß sie glaubte, vor einem unerwarteten Typus geschützt zu sein. Sie wußte allerdings, daß Stephan in gesellschaftlicher Hinsicht arglos war und sich auf lästige Weise indifferent benahm, wenn sie gesellschaftliche Fragen mit ihm erörtern wollte, und es machte sie nervös, wenn er nicht anerkannte, daß zwischen einem gesunden Klassenbewußtsein und einem närrischen Snobismus immer noch eine breite Skala akzeptabler Verhaltensformen lag. Letzten Endes enttäuschte er sie doch nie. Sein Name wurde nur im Zusammenhang mit den elegantesten Frauen genannt. Florence stellte sich vor, daß bei Stephan dann eben doch der richtige gesellschaftliche Instinkt über die sozialromantischen Überzeugungen siegen würde.
Von einem solchen Sieg konnte allerdings bei Stephan nicht die Rede sein, denn er war viel zu phlegmatisch, um seinen ihm angeborenen gesellschaftlichen Kreis zu verlassen, und mußte wohl oder übel, wenn er überhaupt eine Affäre haben wollte, mit einer der Frauen vorliebnehmen, die er in seiner Umgebung traf. Florence hätte wahrscheinlich die Überraschung mit meiner Tante nicht erlebt, wenn sie sich klargemacht hätte, daß für ihren Sohn der einzige Kuppler der Zufall war: Er hatte ihm in New York eben nur Gesellschaftsdamen zugeführt, ihn in Frankfurt aber zur Gemüsesuppe neben meine wie stets in Auflösung begriffene Tante gesetzt.
Florence erschien übrigens allein bei uns, was sich sowohl aus ihren als auch aus Stephans Wünschen erklärte. Daß Stephan in seiner Neurasthenie schon von der Vorstellung gepeinigt war, mit seiner Mutter bei Leuten zu essen, die er nicht über sie kennengelernt hatte, so daß für ihn die Aufgabe der Integration beider Parteien entstehen konnte, liegt auf der Hand. Es verstrichen denn auch noch mehrere Tage, genaugenommen die ganze Woche kurz bevor meine Tante uns wieder verließ, bis er sich entschließen konnte, zusammen mit seiner Mutter bei uns zu erscheinen.
Den größten Teil der harten, körperlichen Anstrengung, mit der die
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