Das Bett
offenbar«, antwortete Ines, die die Erregung ihrer Freundin spürte und gern noch etwas Öl in das Feuer gießen wollte, denn sie hatte sich maßlos darüber geärgert, daß Florence ihren Teelöffel, nachdem sie mit einem kurzen Blick festgestellt hatte, daß er nicht sorgfältig gespült war, wieder hinlegte und darauf verzichtete, den bereits gezuckerten Tee damit umzurühren.
Florence geriet wieder auf vertrauten Boden. Sie erzählte Ines alles, was sie über die Folie à deux gelesen hatte, über die Gefahren, |135| die dem Neurotiker erwachsen, wenn andere, weibliche Neurotiker seine neurotischen Erfahrungsmodelle übernehmen, über die Erhöhung der Labilität, die die krisenhafte Disposition der Seele zum Umkippen treiben kann, und sie schloß mit den Worten: »Weißt du, mir ist es völlig gleichgültig, wie oft und mit wem Stephan seine Abenteuer hat, er ist ein erwachsener Mensch und muß selbst wissen, was er tut. Aber deswegen darf ich doch nicht die Augen davor verschließen, was geschehen könnte, wenn er in seiner Willensbetätigung noch mehr als gewöhnlich eingeschränkt wird – dann muß eben etwas passieren.«
»Nun laß die beiden doch erst mal ins Bett, dann kann man doch weitersehen«, sagte Ines, die sich durch den Vortrag nicht im mindesten beeindruckt zeigte. Sie schätzte nur Ausweglosigkeiten, die aus exzessivem Beischlaf entstanden und auch durch einen solchen bekämpft werden konnten. Keinesfalls wollte sie von Konstellationen hören, die den Beischlaf verhinderten.
Florence ärgerte sich über Ines und schämte sich zugleich dieser Empfindung. Gewiß war Ines zu naiv, um sie zu überführen, und dennoch, Florence kam sich auf einmal bloßgestellt und verspottet vor.
Sie stand auf, sagte zu Ines liebenswürdig »Auf Wiedersehen«, fragte sie aber nicht, ob sie ihr mit etwas Geld die trostlose Lage erleichtern könne, in der die alte Freundin nun lebte. Diese Frage hatte sie zwar gleich nach ihrer Ankunft zu stellen vorgehabt, wollte das aber indirekt und taktvoll tun, um Ines nicht zu kränken. Zu solchen rhetorischen und moralischen Anstrengungen fühlte sie sich nun nicht mehr kräftig genug. Das dicke Dollarbündel in ihrer Handtasche blieb deshalb unangetastet, obwohl sich Ines mit einem einzigen Schein davon die Medikamente, die sie dringend brauchte, zwei Wochen lang hätte kaufen können.
Daß Florence beim Anblick des Briefes den Eindruck von Unschuld empfing, der sich, als sie einige Tage später bei meinen Eltern meine Tante zum erstenmal sah, noch verstärken sollte, hätte meine Tante niemals verstanden. Sie war von skrupulöser |136| Empfindlichkeit gegen sich selbst und hätte das Wort »Unschuld« nie in Verbindung mit ihrer Person gebracht. Seit langem fühlte sie eine Art Hoffnungslosigkeit, die sich wie ein Schleier über ihre Gedanken und Eindrücke legte und sie trübte. Ihr Hut, den sie sich zur Hochzeit meiner Mutter gekauft hatte, die Aktentasche, mit der sie morgens zur Straßenbahn ging, die Sammlung Blauer Bücher, das Album mit den Photographien der Bergwanderungen, all diese kleinen Sachen, die sie liebte, konnten ihr in den Tagen der Melancholie erscheinen wie die Gebrauchsgegenstände in der Zelle eines Gefangenen.
Ihr Leben spielte sich zwischen ihrer kleinen Wohnung und dem katholischen St.-Ursula-Gymnasium ab. Dort stand sie allmorgendlich mit dem Rücken zur Wand und sah sich den taxierenden Blicken einer Gruppe pubertierender Mädchen gegenüber, die ihre Schwächen, die sie nicht verbergen konnte, denn auch vom ersten Tage an herausbekommen hatten und ihr fortwährend zweideutige Fragen stellten.
Meine Tante verstand keine dieser Fragen auf Anhieb, sondern errötete erst, wenn die Klasse ihr triumphierendes Gelächter anstimmte. Ganz fern davon, andern auch nur die geringste moralische Vorhaltung machen zu können, tadelte sie solche Frivolitäten nie. Sie geriet dann in solche Verwirrung, daß der Unterricht stockte, sie sich weit weg wünschte und hoffte, zu sterben, und sich dennoch nicht traute, ein Stoßgebet zum Himmel zu schicken, das sie ein wenig zu entlasten vermocht hätte.
Wenn aber meine Mutter wagte, über die Schule ein abfälliges Wort zu sagen oder gar zu fordern, sie müsse nun endlich da heraus, sie verkümmere bei den Nonnen und lasse sich von ihnen schikanieren, dann stellte sie sich taub und wollte nicht wahrhaben, daß sie versucht hatte, sich über das Leben in dieser Schule schüchtern zu beklagen. Sie sprach dann
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