Das Bienenmaedchen
nicht angebracht sein. Sie schwieg, bis er schließlich zu sich kam und erkannte, wo er war – nicht in einem Gefangenenlager, sondern in einem schäbigen Zimmer in London. Es wurde dunkel und kühler, wenngleich die Abende noch nicht kalt genug waren, um den Ofen anzuheizen.
»Gehen wir nach draußen?«, fragte er und stand auf. »Ich würde gerne einen Spaziergang machen. Natürlich nur, wenn du das auch möchtest.« Wieder blickte er auf ihren Körper, diesmal mit Neugier.
»Natürlich«, antwortete sie. »Ich zieh mich nur rasch um.« In ihrem Schlafzimmer zog sie eine Hose an, deren Bund sie hatte auslassen müssen, und eine dicke Wolljacke. Dann puderte sie ihr Gesicht und suchte ein paar Lippenstiftreste zusammen.
Sobald sie draußen in den stürmischen Böen nebeneinander hergingen, hellte sich Rafes Stimmung auf. Der heftige Wind brachte die Bäume zum Tanzen und riss ringsum die Blätter ab. Sie hielt sich an seinem Arm fest. Sie bückten sich und traten durch die Lücke in einer Hecke in einen Park.
In diesem Moment sandte ein entferntes Suchlicht seinen Strahl über den Himmel. Rafe schreckte zurück, dann entspannte er sich langsam wieder.
»Ich habe nicht zu schätzen gewusst, wie frei ich war, bis mir diese Freiheit genommen wurde.« Er warf den Kopf zurück und streckte die Arme aus. »Weißt du, was mir geholfen hat? Ich hab mir immer wieder vorgestellt, auf den Klippen bei Saint Florian spazieren zu gehen, zuzuschauen, wie sich das Meer an den Felsen bricht, und den Wind auf meinem Gesicht zu spüren. Ich habe versucht, mich an den Geschmack von Salz auf meinen Lippen und an den Duft des Ginsters zu erinnern – du kennst diesen Geruch.«
»Wie Kokosnüsse.«
»Genau. Oh, ich würde alles dafür geben, wenn ich eine Kokosnuss schmecken könnte!«
»Ich träume auch vom Essen«, sagte Beatrice. »Das macht einen völlig verrückt. Erinnerst du dich an den Schokoladenkuchen, den die Köchin deiner Tante früher für uns gebacken hat?«
»Dieser Kuchen, für den man sterben könnte? Hinfort, Versucherin!«, rief er und lachte heiser. Es klang, als ob er lange Zeit nicht gelacht hätte und aus der Übung war. »Ich bin einfach nur glücklich, dass ich wieder mal Steak-and-Kidney-Pie vorgesetzt bekommen habe, auch wenn sie hauptsächlich aus Knorpel und Rindertalg bestand. Und frisches Brot.«
Ab und zu kamen sie an anderen Leuten vorbei, einem turtelnden Liebespaar, einem watschelnden alten Mann, der einen Koffer schleppte, und an einem Luftschutzhelfer. Auf der Kuppe des Primrose Hill setzten sie sich auf eine Bank und blickten über die Stadt hinweg. Die Silhouetten der ausgebombten Gebäude zeichneten sich als seltsame Linie vor dem Himmel ab, der langsam dunkler wurde. Seit vielen Nächten hatte es keine Luftangriffe mehr gegeben. Wie friedlich alles aussah! Ein sichelförmiger Mond ging auf. Lange Zeit schwiegen die beiden.
»Wohnst du immer noch bei deiner Mutter?«, fragte Beatrice, und als Rafe nickte, fügte sie hinzu: »Sie ist bestimmt sehr glücklich, dass du in Sicherheit bist.«
»Natürlich ist sie das. Beide sind es. Sie können es nur schlecht zeigen, das ist alles. Und es ist ihnen unangenehm, wegen meinem Bruder und Angie. Mein Stiefvater fragt mich jedenfalls ständig, was ich jetzt vorhabe. Ich fürchte, ich werde länger dort bleiben, als ich willkommen bin.«
»Und was hast du vor?«
»Ich hab noch eine Woche Urlaub, und dann geh ich wahrscheinlich zu meinem Regiment zurück – da werden viele Gesichter fehlen. Ich lerne langsam, keine Fragen zu stellen. Die Leute schauen weg und scharren mit den Füßen. Es ist ein bisschen peinlich mit mir – da tauche ich wie Rip van Winkle nach unendlich langer Zeit plötzlich aus heiterem Himmel wieder auf!« Sein verbitterter Ton traf sie ins Herz.
»Rafe, es ist einfach wunderbar, dass du wieder da bist! Ich hatte schon fast aufgehört, daran zu glauben.«
»Nein, hast du nicht«, sagte er und tätschelte ihre Hand. »Nicht du.«
Beatrice vermutete, dass auch Angelina noch daran geglaubt hatte. Oder doch nicht? Wenn nicht Krieg und Rafe nicht verschwunden gewesen wäre, hätte sie sich trotzdem für Gerald entschieden? Die Frage war natürlich nicht zu beantworten, aber Beatrice spürte, dass Gerald mehr war als nur ein Ersatz für Rafe. Vielleicht war Rafe eine Art Vorbereitung auf Gerald gewesen. Angie war offensichtlich mit ihm zufrieden.
»Vielleicht sollte ich aufhören, Trübsal zu blasen«, sagte Rafe und rupfte
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