Das Bienenmaedchen
Blätter. Wie hatten sie das in die Finger bekommen? Bedeutete es, dass sie Charles gefangen hatten? Das eine Blatt war eine Abschrift der Nachricht, in der Charles London angefragt hatte, was man im Fall André tun sollte. Die Antwort kam ihr nun furchtbar oberflächlich vor: »Wir wissen nichts über André, stopp. Schauen Sie, was Sie über ihn herausfinden können, stopp. Vielleicht ist er nützlich.« Nützlich, ja. Aber für wen? Hatte er allein gehandelt, oder arbeitete er für die Nazis?
Der Polizeioffizier kicherte, als ob er sich über ihr Unbehagen amüsierte. Sie legte die Papiere wieder auf den Schreibtisch.
»Was wir von Ihnen wollen«, erklärte der Mann, »sind Namen. Namen und die Einzelheiten von Plänen. Wo die Waffenbestände aufbewahrt werden, welche Ziele angepeilt werden. Wenn Sie uns diese Dinge sagen, retten Sie Leben! Diese Rebellen sind nichts weiter als eine kleine Fliege bei unseren Operationen, aber sie sind lästig, und wir sind entschlossen, diese Art von Problem auszumerzen. Auf lange Sicht werden Sie sehen, dass es zum Besten ist.«
»Ich weiß nichts über Pläne und Ziele«, behauptete sie. »Und ich würde Ihnen auch nichts darüber sagen, selbst wenn ich etwas wüsste.« Sie schaute wieder auf das Foto von ihrer Mutter, das sie immer noch in der Hand hielt. »Wie Sie sehen, ist es zwecklos, über meine Familie etwas bei mir erreichen zu wollen.«
Er streckte die Hand nach dem Foto aus.
»Nein, das behalte ich«, sagte sie und hob das Kinn. Eher würde sie das Bild hier und jetzt zerreißen, als es ihm zurückzugeben.
»Nehmen Sie es«, sagte er. »Vielleicht bringt es sie zur Vernunft, wenn Sie es anschauen.«
»Ich bin bereits bei klarem Verstand«, erwiderte sie. »Haben Sie mir nicht zugehört? Ich weiß wenig und werde Ihnen nichts sagen.«
Das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes veränderte sich nicht. Er stand auf und schwenkte eine kleine Glocke, woraufhin zwei Soldaten eintraten. Einen Moment lang fragte sie sich, was nun passieren würde, doch er streckte bloß seine Hand aus und sagte: »Danke für Ihren Besuch, Miss Marlow. Ich bin sicher, dass wir uns sehr bald wiedersehen.«
Sie ignorierte die ausgestreckte Hand und wandte sich zum Gehen. Dann erinnerte sie sich an etwas und drehte sich noch einmal um. »Eine Sache noch. Die Wärterin im Gefängnis. Letzte Nacht hat sie mich ins Gesicht geschlagen. Es war grausam und ziemlich unnötig. Ich möchte Sie bitten, dass jemand mit ihr darüber spricht.«
»Es tut mir leid, das zu hören«, erklärte der Offizier ungerührt. »Überlassen Sie die Angelegenheit mir.«
Beatrice bezweifelte, ob er etwas unternehmen würde, aber sie fühlte sich besser, weil sie es angesprochen hatte.
Als die Tür zu ihrer Zelle klirrend zuschlug, sank Beatrice auf das Bettgestell und gab sich einen Moment lang einem Anfall wilder Verzweiflung hin. Was sollte sie tun? Sie wusste nicht, ob Rafe noch lebte oder ob er tot war, und sie wusste nicht, ob sie sich darauf konzentrieren sollte, ihrer Familie zu helfen. Sie war sich ziemlich sicher, dass der Offizier ihr die Wahrheit gesagt hatte und dass sie ihre Cousine und ihre Großmutter in Gewahrsam hatten. Vermutlich gab es in diesem Gefängnis außer diesen beiden noch andere Geiseln. Beatrice versuchte, ruhig nachzudenken. Wem galt ihre Loyalität am meisten?
Wenn der Feind bereits so gut über die Aktivitäten ihrer Organisation informiert war, wie es den Anschein hatte, würde sie dann wirklich ihr Land verraten, wenn sie noch ein paar Einzelheiten preisgab und so ihre Familie rettete? Ihre gesamte Gruppe war aufgeflogen. Bestimmt hatten die übrig gebliebenen Mitglieder ihre Aktivitäten in den geheimen Unterkünften eingestellt, und die Leute waren untergetaucht – falls man sie nicht schon inhaftiert hatte. Und dennoch … Sie dachte an Stefan und den Arzt und den Piratenmann. Auch sie hatten Familien, und trotzdem hatten sie tapfer, fast draufgängerisch gegen die Besatzungsmacht gekämpft. Wenn sie etwas verriet, das auch nur einen von ihnen in Gefahr brachte, würde das bedeuten, dass ihre Opfer umsonst gewesen waren. Wo stand geschrieben, dass ihre eigene Familie mehr wert war als die dieser Menschen? Wenigstens befand sich ihr Kind in England in Sicherheit.
Ein lautes rollendes Geräusch unterbrach sie in ihren Gedanken. Dann hörte sie, wie jemand heftiger gegen die Tür pochte. Das Guckloch öffnete sich, und eine Schüssel mit etwas Dampfendem wurde auf einem kleinen
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