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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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ist es in Wirklichkeit? Und wer hat es hierhergebracht?
Rosie stellte fest, daß sie die Antwort auf diese Frage nicht
interessierte, jedenfalls jetzt nicht. Das kleine Mädchen
gehörte irgend jemandem, das genügte vorerst; es lag süß und
ganz allein da und versuchte, im kalten grünen Licht im Zentrum des Labyrinths mit seinen Zehen zu spielen.
Und dieses Licht kann nicht gut für das Kind sein, dachte Rosie
geistesabwesend und beeilte sich, zur Mitte des Raums zu
laufen. Es muß sich um eine Art von Strahlung handeln.
Das Baby drehte den Kopf herum, sah Rosie und streckte
ihr die Arme entgegen. Nach dieser Geste hatte Rosie es
rückhaltlos ins Herz geschlossen. Sie schlug die oberste
Decke über Brust und Bauch des Mädchens, dann hob sie es
auf. Der Säugling schien etwa drei Monate alt zu sein. Das
Baby schlang die Arme um Rosies Hals, dann ließ es den
Kopf plong! auf Rosies Schulter sinken. Es fing wieder an
zu schluchzen, aber sehr leise.
»Schon gut«, sagte Rosie und tätschelte dem Baby sanft
den in die Decke eingewickelten Rücken. Sie konnte seine
Haut riechen, warm und lieblicher als jedes Parfüm. Sie
drückte die Nase in das feine Haar um den ebenmäßigen
Kopf. »Schon gut, Caroline, alles ist gut, wir verschwinden
aus diesem häßlichen alten -«
Sie hörte hallenden Hufschlag hinter sich, machte den
Mund zu und betete, daß der Stier ihre fremde Stimme nicht
gehört hatte; und sie betete, daß der Klang der Hufe wieder
leiser werden und sich entfernen würde, wenn Erinyes einen
Weg einschlug, der ihn wieder von ihr fort führte. Aber diesmal hatte sie kein Glück. Die Huf schlage rückten weiter vor
- und wurden peitschender, je näher der Stier kam. Dann
verstummten sie, aber Rosie konnte etwas Großes schwer
atmen hören, wie ein dicker Mann, der gerade eine Treppe
hinaufgestiegen ist.
Langsam drehte sich Rosie, die sich alt und steif vorkam,
mit dem Baby auf dem Arm in die Richtung, aus der das
Geräusch ertönte. Sie drehte sich zu Erinyes um, und Erinyes
war da.
Der Stier würde mich riechen und angerannt kommen. Das
hatte die Frau in dem roten Kleid zu ihr gesagt… und noch
etwas. Er würde es auf mich abgesehen haben, aber wir würden
beide sterben. Hatte Erinyes sie gerochen? Sie gerochen,
obwohl der Mond für sie noch nicht voll war? Rosie glaubte
es nicht. Sie glaubte, daß es die Aufgabe des Stiers war, das
Baby zu bewachen - vielleicht, alles zu bewachen, was sich
im Zentrum des Labyrinths befand -, und er vom Geschrei
des Babys angelockt worden war, genau wie Rosie auch.
Vielleicht spielte das eine Rolle, vieleicht nicht. Wie auch
immer, der Stier war hier, und er war das häßlichste Vieh, das
Rosie je in ihrem Leben gesehen hatte.
Er stand am Ende des Durchgangs, durch den er gerade
gekommen war, und seine Gestalt wirkte irgendwie so verzerrt wie die Architektur des Tempels, durch den Rosie
gerade gekommen war - es sah aus, als sähe sie ihn durch
Ströme klaren, rasch fließenden Wassers. Doch der Stier
selbst stand, jedenfalls im Moment, vollkommen still. Er
hatte den Kopf gesenkt. Ein gewaltiger Vorderhuf, so tief eingekerbt, daß er fast wie die Klaue eines riesigen Raubvogels
aussah, scharrte unruhig auf dem Steinboden. Seine Schultern überragten Rosie mit ihren einsachtundsechzig um mindestens zehn Zentimeter, und sie schätzte sein Gewicht auf
mindestens eine Tonne. Der gesenkte Kopf war flach wie ein
Hammer und glänzte wie Seide. Seine Hörner glichen Stummeln, kaum länger als dreißig Zentimeter, aber scharf und
spitz. Rosie konnte sich leicht vorstellen, wie die sich in ihren
nackten Bauch bohrten … oder in ihren Rücken, wenn sie
versuchte, die Flucht zu ergreifen. Aber sie konnte sich nicht
vorstellen, wie der Tod sein würde; nicht einmal nach all den
Jahren mit Norman konnte sie sich das vorstellen.
Der Stier hob ein wenig den Kopf, und Rosie konnte sehen,
daß er tatsächlich nur ein Auge mitten über dem Maul hatte,
ein milchiges blaues Ding, riesig und mißgestaltet. Als er den
Kopf senkte und wieder rastlos mit dem Huf auf dem Boden
scharrte, wurde Rosie eines klar: Er bereitete sich darauf vor,
sie zu attackieren.
Das Baby stieß einen markerschütternden Schrei fast
unmittelbar neben Rosies Ohr aus, so daß sie zusammenzuckte.
»Psst«, sagte sie und wiegte es auf den Armen. »Still, mein
Kindchen, hab keine Angst.«
Sie selbst freilich hatte Angst, jede Menge Angst. Der Stier,
der da drüben vor der schmalen Tür stand, war drauf und
dran, ihr die

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