Das Bild
Fingernägeln.
Dann wusch sie sich das Haar und begann dabei mit
Sprechübungen. Curt hatte ihr Kinderreime in verschiedenen Tonarten und Stimmlagen vorgeschlagen, und die sagte
sie nun auf, freilich mit leiser Stimme, damit sie die Leute
über und unter ihr nicht störte. Als sie fünf Minuten später
aus der Kabine kam und sich abtrocknete, fühlte sich ihr Körper wieder etwas mehr nach Fleisch und Blut an, und nicht
mehr nach etwas, das aus Stacheldraht und Glasscherben
zusammengebastelt war. Ihre Stimme klang auch wieder fast
normal.
Sie wollte zunächst Jeans und ein T-Shirt anziehen, entschied sich dann aber, als sie daran dachte, daß Rob Lefferts
sie zum Essen eingeladen hatte, statt dessen für einen neuen
Rock. Dann setzte sie sich vor den Spiegel und flocht ihr
Haar. Sie kam nur langsam voran, weil ihr Rücken, ihre
Schultern und die Oberarme ebenfalls ganz steif waren. Das
heiße Wasser hatte ihr gut getan, sie aber nicht völlig wiederhergestellt.
Ja, das Baby war für sein Alter ziemlich groß, dachte sie und
war so sehr mit dem Zopf beschäftigt, daß sie zunächst gar
nicht registrierte, was sie gedacht hatte. Doch als sie fast fertig war, sah sie in den Spiegel, der das Zimmer hinter ihr
refle ktierte, und ihre Augen wurden groß. Die anderen,
unbedeutenderen Unstimmigkeiten des Morgens waren wie
aus ihrem Gedächtnis getilgt.
»O mein Gott«, sagte Rosie mit kraftloser Stimme. Sie
stand auf und ging mit Beinen, die sich so gefühllos wie Stelzen anfühlten, durch das Zimmer.
Das Bild war weitgehend unverändert. Die blonde Frau
stand immer noch auf dem Hügel, der geflochtene Zopf hing
zwischen den Schulterblättern und sie hatte den linken Arm
erhoben, aber nun schien es logisch, daß sie die Augen mit
der Hand beschirmte, denn die Gewitterwolken am Himmel
hatten sich verzogen. Der Himmel über der Frau in dem kurzen Gewand hatte das verblichene Jeansblau eines schwülen
Julitags. Ein paar schwarze Vögel, die vorher nicht da gewesen waren, kreisten am Himmel, aber die bemerkte Rosie
kaum.
Der Himmel ist blau, weil das Gewitter vorbei ist, dachte sie. Es hat aufgehört, als ich … nun …als ich anderswo war.
Von diesem »Anderswo« wußte sie nur noch, daß es dunkel und unheimlich gewesen war. Das genügte; an mehr wollte sie sich nicht erinnern, und sie überlegte sich, daß sie
das Bild vielleicht doch nicht neu rahmen lassen wollte. Sie
wußte, sie hatte es sich anders überlegt und würde es Bill
morgen nicht zeigen, nicht einmal erwähnen. Es wäre
schlimm, wenn er die Veränderung von wolkenverhangenem
Gewitterhimmel zu dunstigem Sonnenschein sehen würde,
aber noch schlimmer wäre es, wenn ihm keine Veränderung
auffiele. Das würde bedeuten, daß sie den Verstand verlor.
Ich bin nicht sicher, ob ich das verdammte Ding überhaupt noch
haben will, dachte sie. Es macht mir angst. Willst du etwas wirklich Komisches hören? Ich glaube, es ist verhext.
Sie hob die ungerahmte Leinwand auf, hielt sie mit den
Handflächen an den Ecken fest und verwehrte ihrem Bewußtsein Zugang zu dem Gedanken
(Vorsicht Rosiefall nicht hinein)
der Grund dafür war, daß sie es auf diese Weise behandelte. Rechts neben der Tür zum Flur war ein kleiner Wandschrank, in dem bis jetzt nur die Tennisschuhe standen, die
sie angehabt hatte, als sie Norman verließ, und ein neuer
Pullover aus einem billigen Synthetikstoff. Sie mußte das
Bild abstellen, damit sie die Tür aufmachen konnte (selbstverständlich hätte sie es unter einen Arm klemmen können,
damit sie eine Hand freibekam, aber irgendwie wollte sie das
nicht), und als sie es wieder aufhob, hielt sie inne und sah es
starr an. Die Sonne schien, das war mit Sicherheit neu, und
große schwarze Vögel kreisten am Himmel über dem Tempel, das war wahrscheinlich neu, aber hatte sie nicht noch
etwas übersehen? Eine andere Veränderung? Sie war fast
sicher und vermutete, sie könne es nicht sehen, weil nichts
dazugekommen war, sondern etwas fehlte. Etwas war nicht
mehr da. Etwas
Ich glaube, ich will es gar nicht wissen, sagte sich Rosie brüsk. Ich will nicht mal darüber nachdenken, so ist das.
Ja, so war das. Aber es tat ihr leid, daß sie so empfand,
denn sie hatte das Bild allmählich als ihren persönlichen
Glücksbringer betrachtet, eine Art Hasenpfote. Und an
einem konnte absolut kein Zweifel bestehen: Der Gedanke
an Rose Madder, die so furchtlos auf ihrem Hügel stand,
hatte Rosie durch den ersten Tag im Aufnahmestudio gebracht, als sie Panik bekommen
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