Das Bild
es
wird der letzte sein, den du je sehen wirst.
2
Rosie erwachte Samstag morgen ein paar Minuten nach vier,
tastete nach der Nachttischlampe und war überzeugt, daß
sich Norman bei ihr im Zimmer befand, daß sie sein Kölnisch
Wasser riechen konnte, meine Männer tragen English Leather,
oder sie tragen gar nichts.
Bei ihrem verstörten Versuch, das Licht anzumachen, hätte
sie die Lampe fast zu Boden gestoßen, aber als Rosie es endlich geschafft hatte (der Fuß hing halb über dem Abgrund),
schwand ihre Angst rasch. Es war nur ihr Zimmer, klein und
ordentlich und normal, und sie konnte nur das schwache,
warme Aroma ihrer eigenen Haut riechen. Außer ihr war
niemand hier-… nur Rose Madder natürlich. Aber Rose Madder hatte sie sicher im Schrank verstaut, wo sie zweifellos
immer noch stand, mit einer Hand die Augen beschirmte
und zu der Tempelruine hinuntersah.
Ich hab von ihm geträumt, dachte sie, als sie sich aufsetzte. Ich hatte wieder einen Alptraum mit Norman, darum bin ich so
erschrocken aufgewacht.
Sie schob die Lampe wieder ganz auf den Nachttisch. Sie
stieß klirrend gegen den Armreif. Rosie hob ihn auf und
betrachtete ihn. Seltsam, wie schwer es ihr fiel, sich daran zu
erinnern,
(woran du dich erinnern mußt)
wie sie zu dem Schmuck gekommen war. Hatte sie ihn in
Bills Laden gekauft, weil er aussah wie der, den die Frau in
ihrem Bild trug? Sie wußte es nicht, und das beunruhigte sie.
Wie konnte man
(was du vergessen mußt)
so etwas vergessen?
Rosie hob den Armreif, der sich schwer wie Gold anfühlte,
aber wahrscheinlich nur aus vergoldetem Blei bestand, und
betrachtete durch ihn hindurch das Zimmer wie eine Frau,
die durch ein Teleskop sieht.
Dabei fiel ihr ein Bruchstück ihres Traums wieder ein, und
ihr wurde klar, daß sie ganz und gar nicht von Norman
geträumt hatte. Sie hatte von Bill geträumt. Sie waren mit
seinem Motorrad gefahren, aber statt sie zu dem Picknickplatz am See zu bringen, war er mit ihr auf einem Weg gefahren, der immer tiefer in einen finsteren Wald voll toter Bäume
führte. Nach einer Weile kamen sie auf eine Lichtung, wo ein
einziger grüner Baum stand, dessen Früchte dieselbe Farbe
hatten wie der Chiton von Rose Madder.
Oh, was für eine prima Vorspeise! hatte Bill fröhlich gerufen,
war vom Motorrad gesprungen und zu dem Baum gelaufen.
Von denen hab ich gehört - wenn man eine ißt, kann man durch
seinen Hinterkopfsehen, wenn man zwei ißt, lebt man ewig! An dieser Stelle hatte der Traum die Grenze zwischen dem
nur Beunruhigenden und dem echten Alptraumland überschritten. Sie wußte irgendwie, daß die Frucht dieses Baums
keine Zauberkräfte hatte, sondern giftig war, und sie lief zu
ihm, weil sie verhindern wollte, daß er in eine der schrecklichen Früchte biß. Aber Bill ließ sich nicht überzeugen. Er
legte nur den Arm um sie, drückte sie ein wenig und sagte:
Sei nicht albern, Rosie - ich weiß, wie Granatäpfel aussehen, und
das hier sind keine.
Da war sie aufgewacht, hatte in der Dunkelheit gezittert
und nicht an Bill gedacht, sondern an Norman … als würde
Norman irgendwo in der Nähe im Bett liegen und an sie denken. Bei dem Gedanken verschränkte Rosie die Arme vor der
Brust und drückte sie fest an sich. Es war gut möglich, daß er
genau das tat. Sie legte den Armreif auf den Nachttisch
zurück, ging ins Bad und drehte die Dusche auf.
Ihr beunruhigender Traum von Bill und den vergifteten
Früchten, ihre Frage, wo und wie sie zu dem Armreif gekommen war, und ihre zwiespältigen Gefühle hinsichtlich des
Bilds, das sie gekauft, aus dem Rahmen genommen und dann
wie ein Geheimnis im Schrank versteckt hatte… das alles verblaßte angesichts einer größeren und unmittelbareren Sorge:
ihrer Verabredung. Die war heute, und jedesmal, wenn sie
daran dachte, verspürte sie einen heißen Stich in der Brust.
Sie war ängstlich und glücklich zugleich, vor allem aber war
sie neugierig. Ihr Ausflug. Ihr gemeinsamer Ausflug.
Wenn er überhaupt kommt, flüsterte eine Stimme in ihr
geheimnisvoll. Vielleicht war alles nur ein Witz, weißt du. Oder
du hast ihn abgeschreckt.
Rosie wollte gerade unter die Dusche steigen, als ihr im
letzten Moment auffiel, daß sie ihren Slip noch anhatte.
»Er wird kommen«, murmelte sie, bückte sich und
schlüpfte heraus. »Er wird auf jeden Fall kommen. Ich weiß
es.«
Als sie sich unter den Wasserstrahl stellte und nach dem
Shampoo griff, flüsterte eine Stimme tief im Innern ihres Verstands - diesmal eine vollkommen andere
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