Das Bild
Treppen steigen?)
kam ihr wieder, aber diesmal verspürte sie keine Angst.
Erinyes war nicht mehr in dem Labyrinth, es sei denn, die
größere Welt - die Welt des Gemäldes - wäre ebenfalls ein
Labyrinth.
O ja, sagte diese seltsame Stimme, die nicht ganz Ms. Praktisch-Vernünftig war, dazu ruhig. Diese Welt, alle Welten. Und
in jeder gibt es viele Sterne. Diese Mythen erklingen über einem
Grundton von Wahrheit, Rosie. Darin liegt ihre Macht. Darum
überleben sie.
Sie preßte sich flach auf die Treppe, atmete keuchend, und
ihr Herz klopfte. Sie litt Todesangst, spürte aber auch eine
gewisse bittere Begierde in sich, die sie ganz genau identifizieren konnte: Sie war auch eine Maske für ihre Wut.
Die Hände vor ihrem Gesicht waren zu Fäusten geballt.
Tu es, dachte sie. Tu es, töte den Dreckskerl, befreie mich. Ich
will hören, wie er stirbt.
Rosie, das ist nicht dein Ernst! Das war Ms. Praktisch-Vernünftig, die sich entsetzt und angewidert anhörte. Sag, daß
das nicht dein Ernst ist!
Aber das konnte sie nicht, weil es einem Teil von ihr ernst
war.
Einem Teil von ihr war es todernst.
11
Der Weg mündete in einer kreisrunden Lichtung, und da war sie.
Endlich war sie da. Seine Rambling Rose. Sie kniete, hatte ihm den
Rücken zugewandt, trug dieses kurze, rote Kleid (er war fast sicher,
daß es rot war) und hatte das gefärbte Hurenhaar zu einer Art Zopf
gebunden. Er blieb am Rand der Lichtung stehen und sah sie an. Es
war eindeutig Rose, kein Zweifel, und doch hatte sie sich verändert.
Zunächst einmal war ihr Arsch kleiner, aber daraufkam es nicht
an. Ihre Haltung hatte sich geändert, das spürte er, obwohl sie ihm
den Rücken zudrehte. Und was hatte das zu bedeuten? Natürlich,
daß es Zeit wurde, ihr die Flausen auszutreiben.
»Warum hast du dir das verdammte Haar gefärbt? «fragte er sie.
»Du siehst wie eine verdammte Schlampe aus!«
»Nein, du verstehst nicht«, sagte Rose gelassen, ohne sich umzudrehen. »Vorher war es gefärbt. Darunter ist es immer blond gewesen, Norman. Ich hatte es gefärbt, um dich zum Narren zu halten.«
Er machte zwei große Schritte auf die Lichtung und wurde
wütend, wie immer, wenn sie nicht einer Meinung mit ihm war
oder ihm widersprach, wenn irgend jemand nicht einer Meinung
mit ihm war oder ihm widersprach. Und was sie heute abend gesagt
hatte … was sie zu ihm gesagt hatte …
»Einen Scheißdreck hast du!« rief er aus.
»Einen Scheißdreck hab ich nicht«, antwortete sie und unterstrich diese erstaunlich respektlose Bemerkung mit einem verächtlichen kurzen Lachen.
Aber sie drehte sich nicht um.
Norman ging noch einmal zwei Schritte auf sie zu und blieb wieder stehen. Seine Hände hingen zu Fäusten geballt herunter. Er ließ
den Blick über die Lichtung schweifen, weil ihm ihre murmelnde
Stimme wieder einfiel, als er nähergekommen war. Er hielt nach
Gert Ausschau, oder nach Rose’ kleinem Schwanzlutscherfreund,
der bereit war, ihn mit seiner Kinderpistole zu erschießen oder einfach einen Stein nach ihm zu werfen. Er sah niemand, was wahrscheinlich bedeutete, daß sie Selbstgespräche geführt hatte, was sie
zu Hause ständig machte. Es sei denn, jemand kauerte hinter dem.
Baum im Zentrum der Lichtung. Dieser Baum schien das einzige
Lebendige in diesem Stilleben zu sein; seine Blätter waren lang und
grün und schmal und glänzten wie die Blätter einer frisch geölten
Avocadopflanze. Seine Äste bogen sich unter der Last von merkwürdigen Früchten, die Norman nicht mal auf einem Sandwich
mit Erdnußbutter und Gelee angerührt hätte. Um Rose’ Beine
herum lagen eine Menge heruntergefallener Früchte, und bei dem
Geruch, der von ihnen aufstieg, mußte Norman an das Wasser in
dem Bach denken. Wenn man solche Früchte aß, würde man entweder sterben oder so schlimme Bauchschmerzen bekommen, daß
man sich wünschte, man wäre tot.
Links von dem Baum stand etwas, das ihn in seiner Ansicht
bestärkte, daß es sich um einen Traum handeln mußte. Es sah aus
wie ein Eingang der verdammten New Yorker U-Bahn, in Marmor
gehauen. Aber das sollte nicht seine Sorge sein, ebenso wenig wie
der Baum mit seinen nach Pisse stinkenden Früchten. Rose war es,
um die es hier ging, Rose und ihr freches Lachen. Er stellte sich vor,
daß ihre koksschnupfenden kleinen Freundinnen ihr dieses Lachen
beigebracht hatten, aber auch das war nicht wichtig. Er war hier,
um ihr eine Lektion zu erteilen, die wichtig war: Wenn man so
lachte, lief man Gefahr, eine Tracht Prügel zu beziehen. Und
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