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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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genau
das würde er in diesem Traum machen, wenn er es schon in Wirklichkeit nicht konnte; er würde es tun, selbst wenn er mit Polizeikugeln vollgepumpt auf dem Boden ihres Apartments liegen und
ein Delirium vor dem Sterben durchlebte.
»Steh auf.« Er ging noch einen Schritt auf sie zu und zog die
Waffe aus dem Hosenbund seiner Jeans. »Wir müssen über Verschiedenes reden.«
»Ja, da hast du ganz sicher recht«, sagte sie, drehte sich aber
nicht um und stand nicht auf. Sie kniete nur da, während Mondlicht und Schatten ihr Zebrastreifen auf den Rücken malten.
»Sieh mich an, gottverdammt!« Er ging noch einen Schritt auf
sie zu. Die Fingernägel der Hand, die nicht die Waffe hielt, gruben sich wie weißglühende Metallsplitter in die Handfläche. Und
immer noch drehte sie sich nicht um. Immer noch stand sie nicht
auf.
»Erinyes aus dem Labyrinth!« sagte sie mit ihrer leisen, melodischen Stimme. »Ecce taurus! Sehet den Stier!« Aber immer noch
stand sie nicht auf, immer noch drehte sie sich nicht um und sah ihn
an.
»Ich bin kein Stier, du Fotze!« brüllte er und zog mit den Fingern an der Maske. Sie wich nicht. Sie schien nicht mehr an seinem
Gesicht zu haften oder mit seinem Gesicht verwachsen zu sein; sie
schien zu seinem Gesicht geworden zu sein.
Wie kann das sein? fragte er sich bestürzt. Wie kann das
möglich sein? Es ist doch nur ein alberner Jahrmarktspreis
für Kinder!
Ihm fiel keine Antwort auf diese Frage ein, aber die Maske löste
sich nicht, wie fest er auch daran zog, und ihm wurde mit übelkeiterregender Deutlichkeit bewußt, wenn er die Nägel hineingraben
würde, würde er Schmerzen verspüren. Er würde bluten. Und
tatsächlich hatte die Maske nur noch eine Augenöffnung, die mitten ins Gesicht gewandert war. Seine Sicht durch diese Öffnung
war dunkler geworden; das zuvor helle Mondlicht schien wolkenverhangen zu sein.
»Nimm sie mir abl«fuhr er sie an. »Nimm sie mir ab, du
Miststück! Das kannst du doch, oder nicht? Ich weiß, daß du
es kannst! Und verarsch mich nicht mehr! WAGE es nicht,
mich weiter zu verarschen!«
Er stolperte den Rest des Weges zu der Stelle, wo sie kniete, und
packte sie an der Schulter. Der Träger der Toga verrutschte, und
was er darunter sah, erschreckte ihn so sehr, daß er einen kurzen,
entsetzten Aufschrei ausstieß. Ihre Haut war so schwarz und verfault wie die Früchte, die um den Baumstamm herum am Boden
verrotteten - diejenigen, die so verfault waren, daß sie schon flüssig wurden.
»Der Stier ist aus dem Labyrinth gekommen«, sagte Rose und
erhob sich mit einer Grazie und Anmut auf die Füße, die er nie an
ihr gesehen oder vermutet hatte. »Und darum muß Erinyes jetzt
sterben. So steht es geschrieben; so soll es geschehen.«
»Die einzige, die hier sterben wird -« begann er, aber weiter kam
er nicht. Sie drehte sich um, und als das fahle Licht des Mondes auf
sie fiel, schrie Norman auf. Er schoß zweimal mit der ,^er vor sich
in den Boden, ohne es zu bemerken, dann ließ er sie fallen. Er schlug
die Hände an den Kopf und schrie, wich zurück und stolperte linkisch auf Beinen, die er kaum noch unter Kontrolle hatte. Sie beantwortete seinen Schrei mit einem eigenen.
Fäulnis breitete sich über die Wölbung ihres Busens aus; ihr
Hals war so purpur-schwarz wie der einer Erwürgten. An manchen Stellen war die Haut aufgeplatzt und verströmte dicke Tränen
gelben Eiters. Aber diese Anzeichen einer weit fortgeschrittenen
und offensichtlich tödlichen Krankheit waren nicht der Grund
dafür, daß sich seiner Kehle heulende Schreie entrangen; sie war es
nicht, was die dünne Eierschale seines Wahnsinns durchbrach und
eine weit schrecklichere Wirklichkeit eindringen ließ, wie das
unbarmherzige Licht einer fremden Sonne.
Dafür war ihr Gesicht verantwortlich.
Es war das Gesicht einer Fledermaus mit den strahlenden irren
Augen einer tollwütigen Füchsin; es war das Gesicht einer überirdisch schönen Göttin, das man in einer Illustration eines alten
und verstaubten Buches entdeckt wie eine seltsame Blume auf
einem von Unkraut überwucherten unbebauten Grundstück; es
war das Gesicht seiner Rose, dessen Aussehen stets durch den zaghaften Hoffnungsschimmer in ihren Augen und die unmerkliche,
sehnsüchtige Krümmung der Mundwinkel über das Unscheinbare hinaus erhoben worden war. Diese Aspekte schwebten auf
dem Gesicht, das sich zu ihm umdrehte, wie Seerosen auf einem
gefährlichen Teich, und dann wurden sie verweht, und Norman
sah, was darunter lag. Es war

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