Das Bild
konnte.
Nun war es zu einem Wettlauf geworden.
6
Sie lief wie als junges Mädchen, bevor ihre praktische, ver
nünftige Mutter mit der schweren Aufgabe begonnen hatte,
Rose Alicia McClendon beizubringen, was sich für eine
Dame schickte und was nicht (laufen, besonders in einem
Alter, wo man Brüste hatte, die dabei auf und ab hüpften,
schickte sich definitiv nicht). Mit anderen Worten, sie rannte,
was das Zeug hielt, senkte den Kopf und pumpte mit den zu
Fäusten geballten Händen. Sie merkte, daß ihr Norman
anfangs dicht auf den Fersen war, bekam aber nicht mit, wie
er zurückfiel, zuerst nur Zentimeter, dann Meter. Sie konnte
ihn noch grunzen und schnaufen hören, als er ein wenig hinter ihr lag, und er hörte sich ganz genau wie Erinyes im Labyrinth an. Sie nahm ihr eigenes, flacheres Atmen wahr und
spürte, wie ihr Zopf auf ihrem Rücken von einer Seite zur
anderen tanzte. Am deutlichsten aber spürte sie ein irres,
aufgeputschtes Gefühl; spürte das Blut, das in ihren Kopf
strömte, bis sie dachte, er würde platzen, aber es wäre
Ekstase, wenn er tatsächlich platzen würde. Sie schaute auf
und stellte fest, daß der Mond mit ihr lief, daß er hinter den
Ästen der toten Bäume, die aufragten wie die Hände von
Riesen, welche man lebendig begraben hatte und die beim
Versuch gestorben waren, sich selbst auszugraben, über
den sternenübersäten Himmel raste. Als Norman hinter ihr
grunzte, sie solle stehenbleiben und aufhören, so eine Fotze
zu sein, lachte sie tatsächlich. Er denkt, ich spiele die Unnahbare, dachte sie.
Dann kam sie um eine Wegbiegung und sah den vom Blitz
gefällten Baum, der ihr den Weg versperrte. Ihr blieb keine
Zeit auszuweichen, und wenn sie versuchte, zu bremsen,
würde sie sich nur auf einem oder mehreren Ästen des
Baums aufspießen. Und selbst wenn nicht, war Norman hinter ihr. Sie hatte einen kleinen Vorsprung herausgeholt, aber
wenn sie auch nur einen Augenblick stehenblieb, würde er
sie packen wie ein Hund ein Kaninchen.
Das alles ging ihr binnen eines Augenblicks durch den
Kopf. Dann sprang sie mit einem Aufschrei - möglicherweise aus Angst, möglicherweise aus Trotz, wahrscheinlich
von beidem etwas -, streckte die Hände vor sich aus wie
Supergirl, flog über den Baum und la ndete auf der linken
Schulter. Sie schlug einen Purzelbaum, sprang benommen in
die Höhe und sah Norman, der sie über den umgestürzten
Baumstamm hinweg anstarrte. Er hielt mit den Händen zwei
rauchgeschwärzte Aststümpfe umklammert und atmete
keuchend. Sein Atem kondensierte zu Wölkchen, und sie
konnte außer Schweiß und English Leather noch etwas anderes riechen.
»Du hast wieder angefangen zu rauchen, was?« sagte sie.
Die Augen unter den blumenbekränzten Hörnern betrachteten sie bar jeglicher Vernunft. Seine untere Gesichtshälfte
zuckte unkontrolliert, als versuchte der Mann unter der
Maske zu lächern. »Rose«, sagte der Stier. »Hör auf damit.«
»Ich bin nicht Rose«, sagte sie und stieß ein kurzes, resigniertes Lachen aus, als wäre er wahrhaftig das dümmste
Geschöpf auf Erden el Toro dumbo. »Ich bin Rosie. Rosie
Richtig. Aber du bist nicht mehr richtig im Kopf, Norman …
oder? Nicht mal in deinen Augen. Aber das ist mir egal, weil
ich von dir geschieden bin.«
Damit drehte sie sich um und lief weiter.
Du bist nicht mehr richtig im Kopf, dachte er, als er um den
Wipfel des Baums herumging, wo genügend Platz war. Sie war auf
der anderen Seite mit voller Kraft weitergerannt, aber als Norman
wieder auf dem Weg war, trabte er nur gemächlich. Mehr war
wirklich nicht nötig. Die innere Stimme, die ihn noch nie im Stich
gelassen hatte, sagte ihm, daß der Weg weiter vorne, nicht weit
von hier, zu Ende war. Das hätte ihn mit Freude erfüllen sollen,
aber er konnte nicht vergessen, was sie zu ihm gesagt hatte, bevor
sie ihm zum letztenmal ihren hübschen kleinen Hintern zugedreht
hatte.
Ich bin Rosie Richtig, aber du bist nicht mehr richtig im
Kopf, nicht mal in deinen Augen … ich bin von dir geschie den.«
Nun, dachte er, damit kommst du der Sache ziemlich nahe.
Es wird eine Scheidung geben, aber zu meinen Bedingungen,
Rose.
Er lief noch ein Stück weiter, dann blieb er stehen, wischte sich
die Stirn mit dem Unterarm ab und wunderte sich nicht, daß er
schweißnaß war, dachte nicht mal darüber nach, obwohl er immer
noch die Maske trug.
»Komm lieber zurück, Rose!« rief er. »Letzte Chance!«
»Hol mich doch«, rief sie als Antwort, und ihre Stimme klang
auf subtile
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