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Das Bildnis der Novizin

Titel: Das Bildnis der Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Albanese Laura Morowitz Gertrud Wittich
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auf einmal wie ein Ort der Freude, des Jubels.
    Es drängte ihn durch den Mittelgang zur Kapelle. Er wollte sich vor allem die Szene ansehen, in der der heilige Stephanus bei der Geburt ausgetauscht wurde. Seine Augen suchten und fanden den grünen Dämon, die Amme in ihrem orangefarbenen Kleid, und blieben schließlich an dem Reh hängen, das den jungen Stephanus säugte und so, laut Legende, am Leben hielt. Das Reh lag mit anmutig untergeschlagenen Beinen am Boden. Die Farbe glänzte noch ein wenig, war noch nicht ganz trocken. Alles war seinen Anweisungen entsprechend gemacht worden.
    »Danke«, flüsterte der Maler dem Reh zu. »Danke, dass du über meinen Sohn gewacht hast.«
    »Guter Maestro«, ertönte eine leise Stimme dicht hinter ihm. Fra Filippo wandte sich um. Es war der junge Marco. Der Jüngling hatte einen Farbstriemen auf der Wange, von der gleichen Farbe wie das Fell des Rehs. »Maestro, ich habe alles erledigt, was Ihr mir aufgetragen habt, und hoffe, Ihr werdet meine Arbeit mit Wohlgefallen betrachten.«
    Der Maler starrte den Jüngling an, dessen Augen ebenso groß und sanft und braun waren wie die des Rehs, das den Heiligen in der Wildnis säugte.
    »Junger Marco«, sagte er, zum ersten Mal den Kosenamen des jungen Mannes benutzend. Von diesem Tag an würde ihn der Geruch von Olivenseife, die zum Schrubben der Böden in der Kathedrale benutzt wurde, immer an diesen Moment erinnern. »Ja, Marco, es ist gut. Was du gemacht hast, ist gut.«
    Ein neuer Tag dämmerte herauf, und Propst Inghirami kniete betend in seiner Kammer. Draußen auf den Straßen war es noch still, aber das würde sich bald ändern. Tag für Tag trafen Pilger aus allen Teilen des Landes ein, aus Orten, so weit südlich wie Kalabrien und so weit nördlich wie Piemont, und das Gesumme um die Kathedrale nahm von Tag zu Tag zu. Es schien, als hätte sich das Gerücht vom Verschwinden des Gürtels in ganz Prato herumgesprochen. Und nur seine entschiedenen Proteste, bestärkt von den Lügen des Generalabts, der schwor, den Gürtel mit eigenen Augen gesehen zu haben, hatten die weltlichen und geistlichen Würdenträger der Stadt bisher davon abgehalten, seine Kirche zu stürmen. Aber jetzt lief ihm die Zeit davon. Wenn die Glocken morgen zur Tertia schlugen, würde das Hochfest des Heiligen Gürtels beginnen; die Straßen würden sich mit Pferden und Kutschen füllen, mit Verkäufern, Händlern und Pilgern, alle würden betend und singend zum Domplatz streben, um Zeugen seiner Entwürdigung zu werden.
    Propst Inghirami stellte sich all die Gesichter vor, die zur Kanzel aufblicken und auf sein Erscheinen warten würden. Ihm wurde übel, wenn er an die aufbrausende Wut, an die Spottrufe dachte, die ihn erwarteten, wenn er mit leeren Händen erschien und das Werk des Satans offenkundig wurde.
    Seit er seinen treuesten Boten mit einem Beutel Gold zu der Amme in das kleine Dorf unweit von Bisenzia geschickt hatte, war der Propst auf den Knien gelegen, hatte fast den ganzen Tag im Gebet verbracht. Und noch immer kein Zeichen von der Muttergottes. Was verlangte sie noch von ihm? Er hatte versucht, alles wiedergutzumachen. Er hatte die Botschaft der Jungfrau verstanden und das Kind in die wartenden Arme seiner Mutter zurückgegeben. Aber vielleicht war die Jungfrau noch nicht bereit, ihm zu vergeben. Vielleicht war sie verärgert, weil er das Haus Gottes entweiht hatte, indem er im Glockenturm Dinge getan hatte, zu denen er kein Recht hatte. Seine Schultern bebten, als er an die herrlichen Stunden dachte, die er mit dem jungen Maler dort verbracht hatte.
    »Heilige Jungfrau Maria, Himmelskönigin«, betete der Propst mit aller Inbrunst, deren er fähig war. »Gute Muttergottes, ich bitte dich um Vergebung und Nachsicht für mich und für den jungen Marco.«
    Er musste sich in die Faust beißen, um nicht laut aufzuschreien. Der Name Michael Dagomari war für immer in die Annalen der Stadt eingegangen, als der Mann, der den Heiligen Gürtel nach Prato gebracht und der Kirche übergeben hatte. Und nun würde er, Gemignano Inghirami, für immer als jener Mann gelten, dessen Sünden zum Verlust des Gürtels geführt hatten.
    Als sich die Mönche zur Laudes regten, erhob sich Inghirami mühsam von den Knien. Falls der Gürtel doch noch wie durch ein Wunder auftauchen sollte, musste Santo Stefano sich für die Feier bereit machen. Und diese Aufgabe oblag ihm allein.
    Nichts regte sich, als er kurz vor der Morgendämmerung die dunkle Kirche betrat.

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