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Das Bildnis der Novizin

Titel: Das Bildnis der Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Albanese Laura Morowitz Gertrud Wittich
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Krankenstation.
    »Heilige Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir.« Ihre Stimme klang laut und klar. »Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.«
    »Sie betet!«, jubelte Schwester Maria, als sie die klare Stimme Lucrezias hörte. Hastig schlug sie ein Kreuz und fiel neben dem Brunnen auf die Knie. Bewegt von Schwester Marias Anteilnahme, sank auch Schwester Bernadetta auf die Knie.
    »Heilige Maria, Muttergottes, Jungfrau vom Heiligen Gürtel«, beteten sie, und ihre Stimmen wurden vom Wind fortgetragen, der durch die Tür der Krankenstation strich, über die hohen Klostermauern, bis nach Prato.
    Lucrezia betete den ganzen Tag und auch während der Vesper. Das Gerücht vom Verschwinden des Gürtels breitete sich vom Stallburschen des Klosters in Windeseile in ganz Prato aus. Als die Sterne am Himmel erschienen, betete Lucrezia noch immer. Ihre Gebete wurden in den ärmsten Weberhütten gespürt, wo gebeugte Gestalten im Schein des glimmenden Kaminfeuers bis in die Nacht hinein arbeiteten; sie erreichten die Hausmädchen im Palazzo der Valentis, die an der Tür ihrer Herrin gelauscht hatten und über das Unglück der jungen Frau Bescheid wussten. Lucrezias Vigil und die Nachricht vom Verschwinden des Gürtels bewegte die Herzen werdender Mütter, ja selbst Rosinas Mutter, die vor dem Schlafengehen die letzten Reste einer dünnen Brühe löffelte. Auch sie ertappte sich dabei, wie sie, inbrünstiger als sonst, um Intervention der Madonna vom Heiligen Gürtel betete.
    Als Teresa de Valenti an diesem Abend ihrem Sohn Ascanio einen Gutenachtkuss gab, musste sie an die schwierige Geburt vor einem Jahr denken. Sie sprach ein besonderes Dankgebet an die Jungfrau vom Gürtel und bat sie um ihren Segen für Lucrezia und ihr Kind.
    »Das Kind ist verschwunden, und nun ist auch der Gürtel weg«, flüsterte Signora Teresa auf Knien, ihren Rosenkranz in Händen. »Heilige Maria, Muttergottes, hilf, dass alles wieder in Ordnung kommt, ich bitte dich. Gedankt sei dir, Maria.«
    Nicht eine der Frauen, die in dieser Nacht beteten, wusste mit Sicherheit, ob das Verschwinden des Gürtels mit dem vermissten Kind zusammenhing. Keine sah, wie Fra Filippo in göttlicher Trance im Schein flackernder Kerzen im alten Wasserhäuschen neben Fra Pieros bescheidener Behausung malte. Keine besuchte Propst Inghirami, hörte seine flehentlichen Appelle an die Jungfrau vom Gürtel.
    Aber wenn eine dieser Frauen ihren Umhang übergeworfen hätte und zum Flussufer spaziert wäre, hätte ihr der Mond in der höchsten Zypresse ein schwarzes Bündel zu erkennen gegeben.
    Und wenn sie zwei Mannslängen hätte hinaufreichen und an einem losen Zipfel des Bündels hätte ziehen können, dann wäre ihr der grüngolden funkelnde Heilige Gürtel in den Schoß gefallen.

29. Kapitel

    Am Montag der vierzehnten Woche nach Pfingsten, im Jahre des Herrn 1457
    D er Morgen dämmerte noch lange nicht, als eine unsichtbare Hand am Klingelstrang der Klosterpforte zog. Doch Schwester Pureza war bereits wach und lauschte. Sie erhob sich mit knirschenden Gelenken von ihrer schmalen Pritsche und eilte durchs dunkle Dormitorium in die kühle Nacht hinaus. Im Stall regten sich leise die Kühe und Schweine. Aus den Privatgemächern der Äbtissin drang lautes Schnarchen.
    Am Tor angekommen, schob Schwester Pureza die Sehklappe zurück. »Wer da?«
    Sie war nicht überrascht, als sie keine Antwort erhielt. Hinter ihr näherten sich leise Schritte über den Hof. Sie schaute sich um. Es war Lucrezia.
    Schwester Pureza entriegelte das Tor und öffnete einen Türflügel. Auf der Steinschwelle stand ein Korb mit einem Säugling. Die alte Nonne schaute nach rechts und links, aber es war niemand zu sehen. Der in eine Decke gewickelte Säugling stieß einen kläglichen Schrei aus.
    »Mein Kind!« Lucrezia drängte sich an Schwester Pureza vorbei und fiel auf die Knie. Sie nahm das Kind in ihre Arme und drückte es innig an sich. Der Knabe roch nach Milch und Morgentau.
    »Endlich!«, rief sie und tastete unter der Decke nach seinen kleinen Händchen. »Er friert, Schwester Pureza«, rief sie lachend und weinend zugleich. »Seine Händchen sind ganz kalt. Mein kleiner Filippino friert.«
    Sie drückte das Kind an sich und wiegte ihren Körper vor und zurück, nahm ganz instinktiv ihre Rolle als Mutter an. Lucrezia hatte keinen Zweifel: Die Heilige Jungfrau hatte ihr Kind beschützt, hatte ihre Gebete erhört und ihr ihren Sohn

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