Das Bildnis der Novizin
Mit klirrenden Schlüsseln und hallenden Schritten ging er zur Kapelle vom Heiligen Gürtel. Dort schien gerade genug Tageslicht zum Fenster herein, dass er das Schloss erkennen konnte, in das er jetzt den Schlüssel steckte. Dann stieß er das Gitter auf.
»Bitte, Heilige Maria, Muttergottes, vergib mir meine Sünden.« Mit angehaltenem Atem näherte sich der Propst der Truhe. Vorsichtig schlug er den Deckel auf.
Die Truhe war leer.
Vergebens griff Inghirami hinein, tastete die Samtbespannung ab. Nichts. Nichts! Wortlos klappte er den Deckel wieder zu, schloss das Gitter und sperrte ab. Im zunehmenden Tageslicht näherte er sich der Apsis, wo zwei Lichtstrahlen durch die Bogenfenster hereinfielen. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er zur Madonnenstatue. Sein Blick glitt über ihr Gesicht, ihre anmutige Gestalt und blieb schließlich an ihrer Hüfte hängen.
Dort hing der Gürtel, funkelnd wie ein Juwel im Licht der ersten Morgensonne.
Dem Propst stockte der Atem.
Er gab sich einen Ruck und eilte zur Statue. Als er den Gürtel berührte, durchfuhr ihn ein leichter Schlag. Da wusste er, dass er nicht träumte. Er hatte Vergebung gefunden. Der Heilige Gürtel war zu ihm zurückgekehrt.
»Heilige Maria, Muttergottes.« Der Propst sank flüsternd auf die Knie. »Dem Himmel sei Dank!«
Den Gürtel in der Hand, betete er, so lange er es wagte. Dann eilte er zur Kapelle zurück, verstaute die kostbare Reliquie in der Truhe, versteckte diese unter dem Altar und verschloss das Gatter. Dreimal kam er zurück, um sich davon zu überzeugen, dass er wirklich zugesperrt hatte.
Dann ging er den Generalabt suchen.
30. Kapitel
Am Hochfest des Heiligen Gürtels, im Jahre des Herrn 1457
E s war ein besonders heißer Tag, und Schwester Pureza schwitzte unter ihrem Habit. Mit offenen Augen und stolz gerecktem Kinn folgte sie der hohen Gestalt des Generalabts, der den Zug der Nonnen anführte. Nichts in seiner Miene verriet die Demütigung, die er erlitten hatte, aber sie war sicher, dass lange, dunkle Stunden des Zweifels, vielleicht sogar der Reue, hinter ihm lagen. Sie empfand eine nicht unbeträchtliche Befriedigung bei diesem Gedanken.
»Was hast du zum Generalabt gesagt, als er bei uns war?«, fragte die Äbtissin Bartolommea, als sie den Domplatz erreichten. »Das wollte ich dich schon seit Tagen fragen.«
Die alte Nonne blickte die Äbtissin an. Ihre Freundin sah müde aus und roch, wie immer in diesen Tagen, durchdringend nach Urin.
»Ich habe ihn gebeten, deine Schwester Jacoba zu uns zu schicken«, antwortete Schwester Pureza, deren graue Augen in die milchigen Augen der Äbtissin blickten. »Ich glaube, du bist müde, und dein Urteilsvermögen ist nicht mehr so gut wie früher.«
Die Äbtissin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ihre Worte gingen im aufbrausenden Jubel der Menge unter. Hunderte von Zuschauern und Gläubigen, die sich auf der Piazza drängelten, blickten zur heiligen Kanzel auf, wo in diesem Moment die rote Robe des Propstes erschien. Und als Inghirami nun den Heiligen Gürtel hochhielt, wollte der Jubel kein Ende nehmen.
»Heilige Maria, Muttergottes, Himmelskönigin, gesegnete Jungfrau!«, brüllte Inghirami überschwänglich, während die Menge um den Dom wogte. Die Nonnen von Santa Margherita strahlten erleichtert und begannen zum Domportal zu drängen. Es galt, um ein weiteres Jahr des Segens, der Weisheit und des Glücks für das Kloster zu bitten.
Da spürte Schwester Pureza plötzlich, dass sie mitten im Gedränge jemand am Ärmel zupfte. Sie drehte sich um. Erfreut schaute sie in das Gesicht Fra Pieros.
»Es ist vollbracht«, sagte er.
Im warmen Sonnenschein erschien ihm seine Angst, als er sich durch den dunklen Kirchenraum zum Glockenturm getastet und hinter die Tür gegriffen hatte, wie ein ferner Alptraum. Damals hatte sein Herz so wild in seiner Brust gehämmert wie die Hammer der Söldner, die den Messias ans Kreuz schlugen. Aber als er sah, dass der Gürtel des Propstes an genau jenem Haken hing, an dem er ihn schon zweimal zuvor gesehen hatte, wusste er, dass der Segen der Jungfrau mit ihm war und dass alles nach Plan gehen würde.
»Dank Euch«, sagte Schwester Pureza leise. »Und dank der Muttergottes«, sagte der Prokurator. Er musste daran denken, wie die Schlüssel an dem Gürtel des Propstes geklirrt hatten, als er ihn vom Haken nahm, und wie plötzlich der Wind auffrischte und dieses Geräusch verdeckte, als wolle der Heilige Geist seine Tat begünstigen.
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