Das Bildnis der Novizin
dem Herzen, entsprang. Andere Maler zeichneten Gesichter; Fra Filippo schuf Leben, lebendige Männer und Frauen.
Mit dem Verblassen des Tages wurde die Hand des Malers immer sicherer. Erinnerungen an seine Kindheit keimten in ihm auf: Der Maler sah sich selbst als kleinen Jungen in zerrissener Hose, wie er in der Metzgerei seines Vaters kauerte und an einer geräucherten Speckschwarte lutschte. Er sah das Gesicht seiner Mutter, die sich über ihn beugte und ihm eine Brotkruste reichte, ihn in ihrer schilfgedeckten Hütte über dem Arno zu Bett brachte, ihm einen Gutenachtkuss gab. Er hörte, wie der Fluss murmelnd unter der Ponte Vecchio dahinfloss, hörte das Geschrei der Nachbarn, die Rufe seines Vaters, das kalte Platschen der Kadaverreste, die in den Fluss geworfen wurden.
Er erinnerte sich noch gut an die Zeit, kurz nach dem Tod seiner Eltern, als er mit seinem Bruder bettelnd durch die Straßen von Florenz zog. Die Karmelitermönche hatten die beiden Knaben schließlich aufgenommen und ihnen eine Ausbildung zukommen lassen, der sich der junge Filippo hartnäckig verweigerte. Schließlich hatte man nachgegeben und Filippo das tun lassen, was er am allerliebsten tat: malen. Auch durfte er mit der Zeit den großen Meistern bei ihrer Arbeit zusehen: dem großen Masaccio, der an dem Freskenzyklus des heiligen Petrus in der Brancacci-Kapelle arbeitete.
Sein Talent war ein Gottesgeschenk, doch dieses Geschenk war ihm nicht ohne Gegenleistung verliehen worden: Um das Leben eines Künstlers führen zu können, war er Mönch und später Priester geworden, hatte Armut und Keuschheit gelobt. Er lebte allein. Alles, was er besaß, war der kleine Wohnraum, der sich der Werkstatt anschloss. Die Werkstatt selbst war gemietet, und sogar seine weiße Kutte gehörte dem Karmeliterorden. Als Ordensmitglied war er strengen Regeln unterworfen und wurde bestraft, wenn er sie brach. Da er nun jedoch ein sehr leidenschaftlicher Mann war, fiel ihm die Einhaltung dieser Regeln schon immer sehr schwer und er war nicht selten vom rechten Wege abgekommen. Dafür war er in der Vergangenheit eingesperrt, ausgepeitscht, bespuckt worden. Aber er war der festen Überzeugung, dass dies der Preis war, den Gott für sein, Filippos, Talent verlangte. Wenn ihn die Arbeit in eine spirituelle Trance versetzte oder wenn ihn Mächtige wie die Medici mit Lob und Reichtümern überhäuften, dann erschien dies ein fairer Preis. Aber an Tagen, an denen ihn die Schaffensfreude im Stich ließ, und in den Nächten, in denen er sich nach einer Frau sehnte, erschien es ihm, als habe er zu viel aufgegeben.
Mit den Skizzen in der Hand zündete Fra Filippo zwei Öllampen an und trat vor de Valentis Porträt der Madonna mit Kind. Er hatte einen ganzen roten Kreidestift verbraucht, dazu die Hälfte eines weichen Silberstifts und ein Dutzend bestes Vellum. Doch jetzt konnte der Maler auf dem blanken Oval des Madonnengesichts die blauen Augen der Novizin sehen, konnte ihre weichen Wangen spüren. Er wusste genau, wie viel Krapprot er für ihre rosigen Lippen brauchen würde, welche Tönung dieses Rot haben musste.
Fra Filippo trat in der hereinbrechenden Dämmerung an den Holzklotz, der ihm als Beistelltischchen diente, auf dem seine Messer, seine Schaber, Farbtöpfchen und Lappen lagen. Behutsam zerstieß er grünes Metalloxyd und goss die letzten Eidotter dieses Tages aus einem Säckchen in den Mörser. Er bereitete eine frische Menge grünes Verdaccio und eine etwas ockerfarbene Tempera zu. Dann zog er seinen Hocker vor das Porträt und studierte es. Sein Blick wechselte zwischen der Skizze von Lucrezias Gesicht und dem blanken Oval hin und her, dann griff er zum Pinsel. Sanft, als würde er ihre Wange streicheln, begann er ihr Antlitz auf die Holzplatte zu übertragen.
3. Kapitel
Am Samstag der vierten Woche nach Pfingsten, im Jahre des Herrn 1456
E s hat nicht genug geregnet«, sagte Schwester Pureza leise. »Der Majoran und die Melisse brauchen viel Wasser, oder sie gehen ein.«
Lucrezia nickte, obwohl es auf der Nachttreppe dunkel war und sie nicht sicher sein konnte, ob Schwester Pureza mit ihr gesprochen hatte oder mit sich selbst.
»Wir brauchen den Majoran«, fuhr Schwester Pureza fort, »und auch Osterluzei. Die Geburt im Valenti-Palazzo steht kurz bevor und Signora Teresa ist keine fünfundzwanzig mehr.«
Lucrezia betrat hinter der alten Nonne die Kirche, ordnete sich auf ihrem gewohnten Platz zwischen Spinetta und der dicklichen Schwester
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