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Das bin doch ich

Das bin doch ich

Titel: Das bin doch ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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sage gut, frage meinerseits nach dem Befinden, bestelle einen Kaffee, lese Zeitung.
    Die Tür wird aufgestoßen. Ein alter Mann schleppt sich herein. Er geht unglaublich langsam, ich habe Angst, er könnte neben meinem Tisch zusammenbrechen.
    »Grüß Gott, Herr Pfarrer, Mahlzeit, Herr Pfarrer!« schreit Gertraud. »Ein Achtel Roten, Herr Pfarrer?«
    Der alte Mann nimmt an der Theke Platz. Ich höre keinen Ton von ihm. Gertraud stellt ihm ein Glas hin und gießt Wein ein.
    »Wie geht es dem Rücken, Herr Pfarrer?« schreit sie. »Geht es schon besser? Mit dem Rücken ist es schwierig, Herr Pfarrer! Mein Vater hat auch immer Schmerzen gehabt!«
    Der alte Mann trinkt stumm seinen Wein. Es ist still im Raum, ab und zu hört man aus der Küche das Klappern von Geschirr.
    »Noch ein Glas, Herr Pfarrer? Darf ich gleich einschenken, Herr Pfarrer?«
    Der alte Mann schweigt. Gertraud gießt ein. Der Mann trinkt, zusammengesunken, vor sich hin brütend. Wenn ich es nicht ständig hören würde, könnte ich nicht glauben, daß er Pfarrer ist, er wirkt wie das Gegenteil davon.
    Und schon hat er wieder ausgetrunken.
    »Noch ein Glas, Herr Pfarrer? Bitteschön, Herr Pfarrer! Zahlen, Herr Pfarrer? Drei Glas Wein macht zwei Euro siebzig, Herr Pfarrer! Danke, Herr Pfarrer! Auf Wiedersehen, Herr Pfarrer!«
    Der alte Mann hat auch das dritte Glas ausgetrunken. Gesagt hat er keinen Ton. Auf dem Weg zur Tür wirft er mir einen Blick zu. Er hat ein zerfurchtes Gesicht und buschige Brauen. Ich sehe nicht weg, schaue ihm in die Augen. »Weiche!« denke ich. Er sieht weg. Gertraud läuft in dem hastigen Stechschritt, den man sich offenbar in fünfundzwanzig Jahren Gastwirtschaft angewöhnt, an ihm vorbei, hält ihm die Tür auf.
    »Auf Wiedersehen, Herr Pfarrer! Danke, Herr Pfarrer!«
    Ein paar Männer in orangefarbener Arbeitskleidung setzen sich an den Stammtisch und beginnen, Karten zu spielen. Sie sind schon in sehr guter Stimmung, johlen und brüllen, donnern mit der Faust auf den Tisch, bisweilen ertönt ein peitschendes Lachen. Mir wird das zuviel. Ich hole den Discman aus dem Auto und setze die Kopfhörer auf.
    Ich höre Foyer des Arts . Ich verehre Max Goldt, aber anders als die meisten Menschen, mit denen ich darüber gesprochen habe, verehre ich ihn nicht nur als Dichter, ich finde auch seine Musik zauberhaft.
    Schneid mich aus dem Leib der Erde / Schneid mich raus und wirf mich weit / Wirf, auf daß ich ewig falle / Fallende, so heißt es doch, haben alle Zeit auf Erden / Und hören die herrlichste Musik .
    Jemand tippt mir auf die Schulter. Es ist Johann, der Wirt. Ich setze die Hörer ab.
    »Was hörst du denn da?«
    » Ein Haus aus den Knochen von Cary Grant .«
    Das stimmt zwar nicht, das Lied heißt Kaiserschnitt , Cary Grant kommt erst, aber ich freue mich über den Ausdruck auf Johanns Gesicht. Ich gebe ihm die Hand.
    » DER THOMAS ! Na! Was macht das Schach?«
    Ich ringe mir ein paar Scherze ab, ich bin zu müde, um geistreich zu sein. Mit Johann habe ich vor zwanzig Jahren Blindschach gespielt. Das heißt, er mit Ansicht des Brettes, ich ohne Brett an einem anderen Tisch, ihm den Rücken zugekehrt. Wie man Züge notiert, also sie »beschreibt«, hatte ich ihm vorher beigebracht. Er rief mir seinen Zug zu, nachdem er ihn am Brett ausgeführt hatte, und ich rief meinen zurück, worauf er diesen am Brett ausführte. Wir spielten einen ganzen Abend an dieser einen Partie, er verlor, und am nächsten Tag erzählte er jedem Gast, es gebe da einen Dreizehnjährigen, der Schach spiele, ohne das Brett zu sehen.
    Eine halbe Stunde später treffen nacheinander alle ein: Oma und Opa, Ivetta und Fritz, Tante Anneliese, meine Mutter und Gottfried, dazu ausnahmsweise sogar die vier Mailänder: Ricki und Livio, Lisa und Lonnie. Die Begrüßungsszenen, in denen auch die Wirtsleute eine nahezu gleichberechtigte Rolle spielen, dauern gut zehn Minuten, dann wird unter höflichem, aber doch herablassendem Grüßen nach allen Seiten der Tisch besetzt. Meine Familie hat die Angewohnheit, in Gasthäusern aufzutreten wie die Entourage des Zuckerkönigs, sie sind überzeugt, jedermann muß sich über ihren Besuch unbändig freuen. Es gefällt ihnen überdies, mit den Wirtsleuten per du zu sein. Sich mit einem Wirt zu duzen zeigt, daß man nicht irgendein dahergelaufener Gast ist. Ich meine, jede und jeder an diesem Tisch hat einen Platz in meinem Herzen, doch ich kann einfach nicht aufhören, mich über immer Wiederkehrendes zu

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