Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
verlassen.
    Sollte eigentlich eine Erleichterung sein.
    »Du hast meinen Arm berührt.«
    Kein Raten mehr, keine Sorgen: der wahre Schrecken.
    Und im selben Moment bemerken sie beide – Elizabeth und Lockwood – Derek. Er kommt von der Toilette zurückgeschwankt, graugesichtig und schwerfällig, die Haut glänzend von Wasser oder Schweiß. Er ist offensichtlich krank. Beide – Elizabeth und Lockwood – verfolgen sein Näherkommen, und würde er ihnen seine Aufmerksamkeit schenken, wäre er womöglich verwundert wegen ihrer sehr ähnlichen Mienen, die echte Sorge ausdrücken.
    Eine andere, bessere Sorge: altruistisch und praktisch. Ihm geht es schlecht, er ist seekrank. Er hat eindeutig Priorität.
    Und ist ein Grund zum Gehen.
    Gott sei Dank, verdammt.
    Elizabeth steht vom Tisch auf. »Ich muss … Er braucht …«, und sie bedeutet Derek, dass sie gehen – die Kabine ansteuern, sich in Ruhe um seine Beschwerden kümmern.
    Ihm seine Tabletten geben, damit sich sein Magen beruhigt – hätte er schon vorher nehmen sollen – und dann kann er sich hinlegen.
    Mal sehen, wie es morgen früh aussieht.
    Keinen blassen Schimmer, wie es morgen früh aussieht.
    Lockwood schlüpft in Gebaren und Tonfall eines Menschen, der sich von Bekannten verabschiedet. Er sieht sie an und sagt rasch: »Du hast meinen Arm berührt.« Ehe Derek in Hörweite ist. Dann schüttelt Lockwood ihr die Hand, nickt Derek zu, nickt ihr zu.
    Beim Gehen nickt Elizabeth nicht zurück und sagt zu niemandem – ja. Ja, ich habe deinen Arm berührt. Aus 361 Gründen habe ich dich berührt.

DEREK WILL SICH hinlegen. Nichts als hinlegen. Das sagt er auch.
    Wie ein Kind.
    Er rollt sich in ihrem Bett zusammen, die Arme um die eigenen Schultern geschlungen, obwohl Elizabeth ihn – wenn er wollte – in den Arm nehmen würde. Derek will nicht. Ihm ist elend. Sie haben es nicht bis in die Kabine geschafft, ohne dass er sich noch mal übergeben musste. Und seit sie hier sind, hat er sich auch wieder übergeben. In der Horizontale ist ihm nicht schlecht, er hat aber das Gefühl, sagt er, als würde ihm jemand den Schädel zusammenquetschen. Weil er das Sehen nicht ertragen kann, hat sie die Lichter ausgeschaltet und sitzt in allgemeiner Düsternis auf dem Miniatursofa neben dem recht breiten und teuren Fenster, durch das deutlich ein Muster aus Sternen und Wolken zu erkennen ist, Regenstreifen, eine Ahnung des Mondes, Andeutungen seines helleren Lichtes. Und das Schiffsleuchten – das ist immer da – wenn sie nach draußen ginge, könnte sie sehen, wie sie beim Fahren brennen. Doch sie muss bei Derek bleiben. Sie zieht die Vorhänge zu.
    Derek atmet, als würde ihn das Atmen nerven.
    In der Kabine ist es zu warm, es riecht verschwitzt und säuerlich – seltsamerweise wie der Fond eines spätnächtlichen Taxis – und der Fußboden drängt unter ihren Füßen hoch und weicht dann wieder zurück. Sie sind in einen Sturm geraten, oder vielleicht ist das auch nur der Normalzustand des Meeres: Machen wir uns nichts vor, so bleibt es eine Woche.
    Derek ist eine schummrige Kurve, ein tieferer Schatten, wo er schräg auf dem Bett liegt – auf der Seite, die Knie angezogen – die Form ist unbestimmt, eher eine Andeutung, wirkt aber dennoch vertraut.
    Sollte man auch meinen – wir sind jetzt fast ein Jahr zusammen.
    Eher schon dreizehn Monate. Und zusammengezogen sind sie erst ziemlich spät. Sie ist zu ihm.
    Ein wenig überraschend.
    Seine Wohnung war schöner als meine – größer.
    Nichtsdestoweniger überraschend.
    Beth hat immer noch einige ihrer Möbel eingelagert, dies und das – vor allem aus Platzmangel, nicht damit sie etwas in der Hinterhand hat, wenn sie flüchten möchte. Derek lebt in einem Bungalow aus den Dreißigern mit eigenartig ausladendem Garten, durch den sogar ein Bach fließt, geschmückt von einer japanisch anmutenden Brücke. Das Innere wirkt weniger großzügig wegen des Gerümpels. Derek hat von seinen Eltern eine Fülle von hässlichen Dingen geerbt – riesige Anrichten, eine Standuhr wie ein Sarg – und ist noch nicht fähig gewesen, sie wegzuwerfen – sentimental.
    Sentimentaler Mann. Empfindliche Bereiche. Er ist immer noch vorsichtig, falls ich etwas beschädige.
    Und ich bin auch nicht ohne Wachsamkeit.
    Was kein Nachteil ist – so kann ich einen klaren Kopf behalten und mich um alle kümmern. So weiß ich, dass Derek Lockwood nicht wiedersehen sollte – wir werden ihm aus dem Weg gehen. Er ist ein Schleicher, aber wir

Weitere Kostenlose Bücher