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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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sehr als Inhalt betrachtet hast, dann konntest du dich auch von der Sünde freisprechen, in Wirklichkeit falsche Informationen weitergegeben zu haben. Und wenn die Information gut ist – gut gemeint ist – dann könnte sie sich letztlich sogar zum Wahren kehren. Jedes Wort kann Zauberkraft entfalten, wenn du es nur richtig anzuwenden weißt.
    Außerdem hat Ehrlichkeit auch ihre brutale Seite – dir ist ehrlich gesagt sehr bewusst, dass sie nicht immer deine erste oder auch nur letzte Wahl gewesen wäre. Die Erfindungen der Freundlichkeit, der Höflichkeit, des Optimismus: Die sind sehr notwendig – und ob nun versehentlich oder unter Druck, es mag Gelegenheiten gegeben haben, wo auch deine Aussagen nicht ganz akkurat gewesen sind.
    Das mag dir hässlich und unangenehm vorkommen, fremd – denn du besitzt Integrität, Unehrlichkeit passt einfach nicht zu dir, wie könnte sie auch? Aber kein Mensch nimmt es immer ganz genau, ist unablässig tapfer: Du kannst dich von diesem oder jenem Rand der Wahrheit abschrecken lassen – so wie jeder. Und wenn du zum Beispiel tatsächlich etwas Unglückliches getan hast, was dir gar nicht ähnlich sah – das Wort, der Gedanke, die Tat, der totale Fehlgriff – wenn es so weit weg war von deinem Wesen, dass es schon irreführend wäre, es zu beschreiben, es zuzugeben – dann könnte eine Täuschung vonnöten, ein Schweigen gerechtfertigt sein.
    Und wenn du nur einen Weg findest, deine Träume auszuüben, mit ihnen zu spielen, sie zu teilen? Wenn du nun Beschwörungen rezitierst, fröhliche Vorhersagen erfindest? Das muss doch bestimmt rein und harmlos sein. Die Freunde, die Verwandten, die Geliebten, diejenigen, die dich kennen: Die sehen dir ohnehin ins Herz, egal, was du ihnen erzählst, und so können sie sich an deinen Phantasien erfreuen – Geheimnisse, die dich enger an sie binden, ihre Definitionen deiner Person erweitern – welche Lügen ein Mensch wählt, gestattet eine verlässliche Diagnose.
    Aber nicht Lügen – der Ausdruck ist zu scharf. Wenn du dich eingehend betrachtest, kommst du zu dem Schluss, dass du etwas Besseres bist, kein Lügner. Du hast nur vermieden, ganz wahrheitsgetreu und pedantisch zu sein, wo es jemanden verletzen würde – dich selbst eingeschlossen – und Selbstverteidigung ist nichts, wofür man sich schämen müsste.
    Es ist ein Zeichen deiner moralischen Sensibilität, dass du dich manchmal schämst.
    Du hast im Laufe deines gesamten Lebens gelegentlich geirrt, zu instinktiv gehandelt, bist vom Weg abgekommen. Das gibst du zu.
    Das würde nicht jeder Mensch zugeben.
    Außerdem gab es auch Tage, an denen du die Wahrheit gesagt hast, obwohl es wehtun würde. Du hast die Verletzung ertragen. Du könntest dich dafür bewundern lassen, doch stattdessen sprichst du nicht darüber. Es gibt einiges – wenn du darüber nachdenkst – wovon du nicht sprichst, und es ist bezeichnend, dass die besonders guten Taten ebenso wenig erwähnt werden wie die besonders schlechten. Beide können dir an die Nerven gehen.
    Du zeigst anderen eher deinen Mittelwert. Was auch klug ist. Menschen sind nicht dafür geschaffen, in der Selbstdarstellung allumfassend zu sein. Das wäre zu erschreckend. Sie würden immer zu viel bedeuten.
    Eine Schicht würde die nächste freilegen, Bedeutungen würden sich verdoppeln und vervielfachen, immer so weiter, und wo sollte das alles enden?
    Es würde in einem Raum enden.
    Es würde mit einem Mann enden, der in einem Türrahmen steht und in einen Raum zurückgeht.
    Es würde mit diesem Raum enden.
    Er ist in diesem Raum.
    Der Mann ist in diesem Raum.
    Wieder in so einem für den Abend gemieteten stickigen kleinen Raum – Bühne am hinteren Ende, der Tür gegenüber, und die Reihen stapelbarer Stühle ordentlich aufgestellt, mit einem Gang in der Mitte – die Durchreiche an der Seite verschließt ein Rollo, das in der Pause hochgehen und die winzige Küche zeigen wird, in der jemand Tee und Kaffee kocht und Kekse serviert.
    Und jeder Raum wird immer stickig sein – was der Mann tut, verdichtet womöglich die Atmosphäre, er weiß es nicht – und die Kekse werden immer nur altbacken sein – auf die Gebäckdichte hat er allerdings keinen Einfluss: Das liegt daran, dass sie billige Kekse kaufen – ganz egal, wo oder wer sie sind, sie kaufen immer die Hausmarkenkekse, fieses Zeug, und ignorieren die Haltbarkeitsdaten, bewahren sie nicht in einer luftdichten Dose auf, und das ist wirklich atemberaubend gedankenlos. Eine

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