Das blaue Buch - Roman
Männer – sie leugneten die Regeln von Heim und Stadt, von Krankenhaus und Kirche, von Dorf und Farm, die Regeln von Menschen, die Menschen gegenüber stehen. Sie vergewaltigten so, wie man eine Zigarette raucht oder etwas trinkt. Sie vergewaltigten, um etwas zu beweisen – dass sie nämlich niemanden vergewaltigten, nichts taten – dass Appetit und befreites Denken unbesiegbar sind. Sie waren etwas Absolutes, sie führten ihre Umuganda durch, als würden sie tatsächlich Unterholz beseitigen, Bäume fällen – so schnell wie Unkrautjäten – als wollten sie ihr ganzes Land in einen großen, gepflegten Landschaftsgarten verwandeln – wie der Park um ein herrschaftliches Anwesen oder vielleicht ein Golfplatz. Macheten und Kugeln und so große Ängste, dass alle vor Morgengrauen sterben müssen.
Jedes Mal, wenn Agathe die Augen zugemacht hat, ist es Nacht geworden. Sechs Jahre Nacht in ihrem Schädel, und die Geräusche, die Menschen machen, wenn sie aufhören, Menschen zu sein.
An diesem Morgen wird sie das Gesicht des Mannes betrachten, und er wird sie mit Worten zurückführen in den April, in das Leben in Kimihurura – oben auf dem Hügel, in der Nähe der Botschaftssiedlung, zwischen den kurvigen Straßen und Waldstücken – gut für Partys und Klatsch, gut für saubere Luft.
Doch das Flugzeug des Präsidenten ist explodiert, und was nicht geschehen konnte, geschieht; jenseits aller Grenzen und Maße. Es gab einen Plan. Die ganze Zeit schon hatten die Männer mit den Macheten, die Radiosprecher, die Politiker, die sie antrieben, einen Plan – es gab Strategien und Vorkehrungen und diplomatische Bedenken, und nie hatte sie deren rote, flüssige Wahrheit gefunden. Also fand die Wahrheit sie. Sie fand alle.
Und der Mann und Agathe und Guillaume – sie sind zusammen dort.
Und mitten auf der Straße rennt eine nackte Frau auf sie zu, und dann fällt sie so, als sei sie gestolpert. Sie wird sich wehgetan haben, die Knie aufgeschürft. Auf ihrem Rücken ist ein eigenartiger Fleck, er glänzt. Ein Soldat der Präsidentengarde schlendert zu ihr, schießt noch einmal auf sie, diesmal in den Kopf, und geht weiter.
Agathe ist drei Minuten entfernt – drei Minuten lockerer Spaziergang – gefangen in ihrem gefährlichen, hübschen Haus mit einfachen Türen und unvergitterten Fenstern, einem schönen Garten, einer Terrasse mit Abendsonne und einem nicht ausreichenden Zaun.
Nichts von dem, was sie hat, nützt ihr etwas, nicht jetzt.
Guillaume möchte, dass Agathe sich versteckt. Er sagt es ihr mit heißem Flüstern: »Genda!« Er klingt wie noch nie zuvor: so klein, so ängstlich, von Liebe zerrissen. Und sie will nicht gehen, und er fleht, und die Männer sind schon nebenan – draußen und nebenan – Abakuzi, Impuzamugambi, Interahamwe – die Namen ihres kommenden Todes.
Und als sie sich daran erinnert, hineinstürzt, da erschauert Agathe, und der Mann erschauert, und als sie weint – dieses verlassene, regungslose Weinen – da weint der Mann auch.
Und sie geht, sie geht dorthin – ganz und gar dorthin – also bleib bei ihr, liebe sie, bleib bei ihr, und jetzt geht sie ganz.
Der Mann sagt ihr, dass Guillaume bei ihr im Zimmer ist – stellt sich das Gefühl vor, mit diesem Atem, diesem Duft, dieser Luft von vor Jahren erfüllt zu sein – und der Mann nimmt die Worte ihres Mannes in seinen eigenen Mund – »Iruka!« Das letzte Wort – gut geraten, wunderbar geraten – schön gemacht.
Also mach weiter, halt dich fest.
Der Ehemann muss zugeschaut haben, während Agathe sich irgendwo verbarg … kein Gedanke an die Folter, um ihr Versteck zu verraten – er wird ermordet, nicht verhört werden – und er will einen letzten Blick auf seine Frau, er will ihr Gesicht fest in seinem Denken verankern, wenn er allein ist und der Horror kommt.
Irgendwo – schau sie an – es war ein winziges, hoffnungsloses, fadenscheiniges Versteck … sie zwängt sich hinein, überlegt, die Arme um sich zu schlingen wie ein Mädchen – etwas Niedriges, so ähnlich wie ein Schrank – auf Höhe der Soldatenschienbeine, der Stiefel – zusammenzucken, zucken, zucken – laute Stiefel, als sie erst drinnen waren und traten.
Weil das so scheißoffensichtlich ist, erzählt der Mann ihr, dass die Eindringlinge Geld und Schmuck mitnahmen und ihre Kleider durchwühlten.
Erwähne Bettzeug – ich würde Bettzeug zerreißen – wenn ich so ein Arschloch wäre.
Verwirrend, berauschend – Opfer und Täter zu sein –
Weitere Kostenlose Bücher