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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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– sie haben noch einen langen Tag vor sich – sie schießen entweder in die Menge oder metzeln einzelne willkürlich mit Macheten nieder. Michel hört nicht, was mit ihm geschieht, versteht es kaum ansatzweise – außer Atem, Staub in der Kehle, und dann weg.
    Das fühlt sich wenig überzeugend an, nicht vollständig genug. Agathe möchte vollkommen verstehen: zumindest bei Michel sein, auch wenn sie nicht mehr tun kann, was eine gute Mutter tun sollte, nämlich ihn retten.
    Mutterliebe, Mutterschuld, Mutterblut – das alles macht einen fertig.
    Und ich würde ihr gerne den Gefallen tun – wirklich, aber Michel wäre verdammt kompliziert, er würde sich widersetzen. Ich habe nur noch auf seinen Tod Zugriff, und ich werde es gar nicht erst versuchen, das geht so besser – das wird wirklich besser gehen, als sie zusehen zu lassen, wie er in Stücke gerissen wird.
    Guillaume – das ist unsere beste Chance – er ist ihr Ausweg. Er ist Erlösung.
    Und die sollte sie verdammt noch mal kriegen, also werde ich verdammt noch mal dafür sorgen, also verdammt noch mal los.
    Der Mann lässt sie wissen, wie Guillaume ihr zugesehen hat, als sie durch Kigali irrte. Es lag an ihrem Ehemann, dass sie nicht verblutete und nicht wieder aufgegriffen wurde. An ihm, dass der UN-Jeep genau dort stehen blieb, wo sie ihn erreichen konnte. An ihm, dass die Straßensperren kein Interesse an ihr zeigten – schon erledigt.
    Offensichtlich.
    So viel Liebe von ihm.
    Gebündelt – ich sehe Liebe immer in Bündeln, weiche Armladungen davon.
    Weil ich ein sentimentales Arschloch bin.
    Aber Agathe kriegt mehr als ein Bündel.
    Sie kriegt einen richtigen Abschied.
    Guillaume muss sie küssen.
    Ja, das muss er, meine Liebe, mein Liebling. Komm, Agathe, du kannst das. Wir können das.
    Der Mann schlägt vor, dass Agathe die Augen schließt und dass die Dunkelheit neu geschrieben wird, von diesem Tag an sicher und friedlich sein wird. Und ihre Liebe ist so nahe, dass sie seine Haut riechen kann, sein Haar, seine Sachen, die nun für immer sind.
    Der Mann möchte, dass sie die Lippen schürzt.
    Tief. Ein tiefer Kuss. Gedankenkuss. Beweg dich dafür. Bitte. Für mich. Für ihn. Die natürlichste Sache der Welt.
    Wenn sie die Lippen für den Geist eines Kusses spitzt, dann wird es funktionieren.
    Wenigstens sollte es funktionieren. Weiß nicht.
    Ich prostituiere sie für eine Leiche.
    Na komm, Mädchen. Für mich. Du kannst ihn küssen.
    Süße Agathe.
    Öffne alle Geheimnisse deiner Lippen.
    Sie mag Lyrik wirklich gern – schade, dass ich selbst nicht in der Stimmung bin – zu aufgeregt – habe so etwas noch nie versucht.
    Doch er versucht, sie mit Worten zu dem herrlichen Schmerz zurückzuführen, der einmal Verlangen und Begehren war, der Liebe war.
    Kuss.
    Süße Agathe, ein Kuss.
    Der Mann beugt sich vor und sagt: »Und er nimmt deine Hand, Agathe. Du küsst ihn, und zum Beweis wird er deine Hand berühren.«
    Die Nerven werden nach Amputationen verwirrt, sie gruppieren sich neu, also – das kann möglich, sollte möglich sein – eine Bewegung ihres Mundes, ihrer Wangen kann das Verschwundene zurückholen: Sie wird spüren, wie ihr verlorener Mann ihre verlorene Hand hält.
    Und wie verflucht gut wäre das? Das wäre so gut.
    Nicht unbedingt eine exakte Prozedur.
    Tatsächlich noch nie vorher probiert.
    Aber ich wollte.
    Aber unvorhersehbar.
    Aber Scheiß drauf. Du kannst das, Agathe. Ich weiß, du wirst es fühlen, denn du solltest es fühlen. Du solltest dies haben.
    Du kannst es.
    Und dann sieht er sie, sieht sie lächeln, und er ist sicher – er sieht, wer sie war und wer sie sein wird, und dass sie mehr ist und sauber und mehr und stärker und mehr und verliebt.
    Ekstase. Für dich und für mich. Endlos.
    Scheiße, ja.
    Sie weint, ohne es zu merken. Es schüttelt sie, quält sie, doch sie lässt es zu und lächelt trotzdem. Sie brennt.
    Tut weh, hinzuschauen.
    Wenn etwas so wundervoll ist, solltest du nicht hinschauen.
    Musst aber aufpassen, wachsam bleiben.
    Was von ihrem Unterarm übrig ist, hebt sich vom Tisch, ihre Augen noch geschlossen, sie konzentriert sich, über den Mann hinaus – über diese Welt hinaus – und greift, klammert, berührt mit Fingern, die nicht existieren. Sie hält die Hand ihres Mannes, sie fühlt sie, erkennt sie.
    Das ist wahr.
    Verdammt wahr.
    Und das schenkt dem Mann eine Freude, die ihrer nahe kommt.
    Verdammt, ja.
    Doch es war nicht ihr Mann.
    Gut, dass der Mann sie nur gelenkt hat, sie locker

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