Das blaue Haus (German Edition)
Hörer auflegte, konnte sie vor lauter Siegesstimmung kaum atmen. Sie genoss in Gedanken noch einmal Sarahs kraftlose Stimme, die ihr wie Öl hinuntergeflossen war. Zum Wochenende wollte sie ihr weitere Fotos von Dane und Ragee bringen. Ja, alles funktionierte hervorragend!
Nachdem sie Sarahs Zerfall zweifellos in Gang gebracht hatte, dachte sie an den nächsten Schritt, den sie gehen wollte. Und sie dachte wieder an ihren alten Freund Ben Harbour, der bei der Denver Post in der Redaktion arbeitete.
April 1997. Salina. Markley Road. Bei Ragee.
Als Dane am nächsten Morgen erwachte, konnte er sich zunächst an rein gar nichts mehr erinnern, wohl noch an das letzte Buch, das er gestern gegen Nachmittag gelesen hatte, aber an nichts mehr danach. Es war wieder da, dieses Vergessen. Es quälte ihn ins Bewusstsein und in eine kraftlose Haltung beim Aufstehen. Die Uhr zeigte schon nach acht, und nichts roch nach Ragees morgendlichen Zerealien. Alles war ruhig, und Dane ergriff wieder die Panik, dass etwas mit Ragee passiert sein könnte. Er sprang aus dem Bett und rannte in das Zimmer von Raimund Geers. Dass niemand in dem Bett lag, noch sich im Zimmer aufhielt, ließ Dane noch flinker werden. Er stolperte die Treppe hinunter. Alles war ruhig. Sein Herz begann zu rasen. Er rief nach Ragee, aber er erhielt keine Antwort. Er rannte alle Zimmer ab und konnte den alten Mann nirgends finden. Was war gestern Nachmittag so Schreckliches passiert, dass heute alles so anders war? Keine Nachricht, keine Anzeichen, was los war. Dafür fand er etwas anderes, das seine Erinnerung kurzum wieder in Gang brachte. Die Zeitung lag auf dem Esstisch. Damit kam Danes Erinnerung an gestern Abend ganz langsam in Gang. Er nahm die Zeitung und wusste, dass er darin nach etwas suchen sollte, nach etwas unglaublich Wichtigem.
Er stockte plötzlich. Nein, er wollte nicht hineinsehen. Es stand nichts Wahres darin. Ragee hatte gestern nur ein neues Rollenspiel erprobt.
Er schaute die Treppe hinauf und vermisste den alten Mann.
Raimund Geers hatte sich in früher Morgenstunde aus dem Haus geschlichen, und mit ihm eine neun Millimeter Smith and Wesson . Er hatte sich in der Nacht alles gut überlegt und seine Dummheit bereut, einen Mörder wie Dane bei sich zu beherbergen, und dann auch noch daran zu glauben, ihn wieder gesellschaftsfähig machen zu können. Was für ein Irrsinn! Die Todesanzeige von Sarah hatte ihn endlich wachgerüttelt.
Es war kalt draußen. Ragee besah sich die Waffe; das Finale einer Strapaze stand an. Was für ein beschissenes Finale. Aber es geschah ihm recht, Dummheit musste bestraft werden.
Ragee wusste, dass Dane nun wieder genügend Grund hatte, um Amok zu laufen. Und er wusste, dass er nicht einmal eine Waffe brauchte, um das zu tun, was ihn befriedigte. Seine bloßen Hände reichten schon aus, und er war durchtrainiert und gereizt.
Nur schweren Herzens hatte Ragee diese Entscheidung getroffen. Es war eine Entscheidung aus Angst. Das ließ den alten Mann nun an der Hausecke im Gebüsch verharren. Er mochte Dane wirklich, und nur deswegen wollte er den anstehenden Amoklauf verhindern – für die Menschen, die Dane verletzen oder gar töten konnte. Nun war es ganz allein seine Aufgabe, die Verantwortung zu tragen.
Raimund Geers hatte die Smith and Wesson nur einmal in seinem Leben bisher benutzt: vor langer Zeit, als er einen Einbrecher in seinem Haus in Junction City zu vertreiben versucht hatte. Seitdem lag die Waffe in Salina, denn der Schuss, den Ragee damals in die Decke als Warnschuss abgefeuert hatte, war eher zu seinem eigenen Warnschuss als zu dem des Einbrechers geworden. Nie mehr, so schwor er sich, wollte er dieses Ding benutzen. Es konnte zu schnell zu einer eigenen Falle werden. Doch Shirley hatte darauf bestanden, die Waffe nicht abzugeben. So war sie kompromissvoll in Salina gelandet, wofür Ragee in diesem Moment sehr dankbar war.
Er verharrte bewegungslos hinter der Hecke und konnte kaum glauben, dies zu tun. Er wartete tatsächlich darauf, einen Menschen vorsätzlich zu töten. Seit gestern Abend war seine Kraft so erschöpft, dass er nicht mehr anders handeln konnte. Aber was wäre, wenn er die Situation falsch einschätzen würde und Dane gar keine bösen Absichten hatte? Was, wenn Dane jetzt vor Sorge um ihn aus dem Haus gerannt kam, um ihn zu suchen?
Ragee berief sich auf seine Fähigkeit, von der er immer noch glaubte, sie hervorragend zu beherrschen: die Abschätzung eines Blickes. Er wollte dies
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