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Das blaue Haus (German Edition)

Das blaue Haus (German Edition)

Titel: Das blaue Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Schreiner
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Schrank, aus dem er die Stoffrolle entnommen hatte. In dem Schrank lag ein Block mit einem Kuli, direkt neben den Bibeln. Stoff bestellen schrieb er kritzelig darauf, riss das Blatt vom Block und legte es an die Stelle, an der eben noch die Stoffrolle gelegen hatte. Dann schloss er alle Schranktüren und kletterte wieder zum Oberlicht hinauf. Zwei Herbstblätter wehten hinein. Verdammt! Er griff nach ihnen und warf sie wieder hinaus. Hastig sah er sich nach anderen Spuren seiner Flucht um. Nichts, alles wie geleckt. Es konnte losgehen.
    Dane blinzelte in die kühle Winterluft des herannahenden Abends. Die Luft tat gut, sie war frisch und stimulierte ihn. Der Frost beherrschte inzwischen den Boden, und schwere weiße Wolken kündigten den ersten Schnee an.
Als seine Füße den harten Boden betraten, fing ihn plötzlich ein starkes Glücksgefühl ein. Erinnerungen an die verschneiten Weihnachtstage in seiner Kindheit holten ihn ein. Dann wurde er traurig. Er sah die leuchtenden Tannenbäume der anderen und seine eigene Traurigkeit in dieser Zeit. Es waren nicht die materiellen Geschenke, die er vermisst hatte, es waren tausend andere Dinge gewesen. Aber da war immer der Schnee, den konnte ihm keiner nehmen, nicht einmal sein Vater. Nun hing dieser Schnee wieder dort oben – schwer und dick. Er hatte seine Kindheit überlebt.
Dane lächelte und betrachtete überwältigt die mit Schnee gefüllten Wolken. Weder die beißende Kälte noch der scharfe Wind machten ihm Unbehagen. Was er sah und spürte, wärmte ihn genug. Weihnachten in Kansas. Wo gab es ein schöneres Weihnachten, als hier unter diesem herrlich schneebedeckten Himmel in Kansas – als freier Mensch.
Seine Muskeln schmerzten, sein Blick schweifte vom Himmel zur Erde zurück, und er verlor das illusionäre Gefühl von Weihnachten wieder. Das Glücksgefühl wich plötzlich höchster Aufmerksamkeit. Es begann ihn zu frösteln. Sein Blick fuhr umher, und er sah, dass er sich an der hinteren Seite des Hauses befand. Er blickte zurück auf das offene Fenster, durch das er eben geklettert war und zog es leise zu. Hielt es sich geschlossen? Was, wenn es aufschwang und ihn verriet? Frierend schüttelte er den Kopf.
Die Wärme war nun vollkommen aus ihm gewichen – seine Kindheit auch. Die Gegenwart holte ihn wieder in den Bann der unendlichen Wenn‘s und Aber‘s. Wer käme schon auf die Idee, in seinen Sarg zu sehen? Gerade in seinen.
Kahle Büsche und Bäume reihten sich in beschnittenem Zustand um das hintere Grundstück. Ein Auto rauschte dumpf am vorderen Teil des Grundstücks vorbei. Der Nebel verschluckte die Geräusche des kalten Dezemberabends. Alles war still.
Seine ersten Schritte in der Freiheit raschelten durch das knöcheltiefe Blätterwerk. Tote Blätter, die den Sommer hinter sich hatten, wie er. Nur, dass er nicht tot war – er war hier, inmitten von Blättern, mit deren Schicksal er nicht tauschen wollte, auch wenn es seine Situation jetzt enorm erleichtert hätte. Aber wann war er je den leichten Weg gegangen? Sogar das Herumschleichen zwischen den Blättern war schwer. Seine Wadenmuskeln schmerzten. Er rieb an ihnen herum und taxierte dabei die Umgebung. Der Garten, in dem er sich befand, grenzte unmittelbar an einen anderen. Im Haus war es dunkel, genau wie in den anderen Häusern umher. Die Kälte und der Wind brachten seine Gedanken durcheinander. Die Medikamente quälten ihn wieder mit Kopfschmerzen, die unangenehmer waren als eben. Er dachte plötzlich an die Klinik, die Wärme darin, die doch keine Wärme war, die bei den Patienten nur die Haut wärmte, nicht aber das Herz. Der Kopfschmerz wurde stärker und versuchte ihn aufzuzehren. Er legte seinen Verstand wieder lahm. In der Klinik hatte er nie Kopfschmerzen gehabt – und viele andere Dinge nicht, die er jetzt aber wieder hatte. Unsicher suchte er den Weg in das dichte Gestrüpp. Er musste erst auf eine Besserung seines Zustandes warten, bevor er den Garten verlassen konnte. So konnte er sich unmöglich unter die Menschen wagen.
    *
    Mr. Pierson betrat den Raum, und seine glänzenden Särge lächelten ihn an. Eigentlich waren es ja nicht mehr seine Särge, aber nur schwer konnte er sich von den Schmuckstücken seiner stundenlangen Schreinerarbeit trennen. Irgendwie würden sie immer sein Eigentum bleiben – Begleiter des ewigen Lebens – seines und anderer. Wie sehr er seinen Job doch liebte; die Ruhe um ihn, das weiche Holz, wenn es frisch gehobelt durch seine Hände glitt und sich

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