Das blaue Haus (German Edition)
Sarah.
Kurz nach sieben kamen die Newshorns mit dem LKW in der Richmond Avenue an und klingelten Sarah, Jim und Johnathan aus dem Schlaf. Die Wohnung roch nach kalter Pizza. Sarah war wieder übel. Sie verschwand im Bad und erbrach sich.
„Sie müssen gut auf sie aufpassen. Ihr war gestern schon einmal schlecht gewesen. Sie ist sehr erschöpft.“
Mrs. Newshorn dankte Jim lächelnd für seine Fürsorge und half nach besten Kräften, den LKW zu beladen, während Sarah mit ihrem Vater einen letzten Tee in der Wohnung trank.
Es war schon komisch, noch nie hatte sie mit ihrem Vater, Ben Newshorn, so nahe zusammengesessen. Wie seltsam war doch alles seit Danes Tod geworden. Das eine entfernte sich, das andere näherte sich. Sarah fühlte sich gut, ihren Vater ganz alleine für sich zu haben. Er konnte wegen seiner Bandscheibe nicht helfen, aber dafür fuhr er den LKW.
Ihr Vater hatte versucht, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, aber er war so entsetzlich ungeübt darin. Er spürte ihre Verzweiflung und fand nicht die richtigen Worte. Warum sagte er nicht: Erzähl doch mal und lass richtig Luft ab.
In gewisser Weise waren ihre Eltern Dane nicht ganz unähnlich. Auch sie verschleierten gerne alles und lieferten sich regelrechte Schauspiele – andere Schauspiele. Und doch empfand es Sarah als die einzige sinnvolle Entscheidung, wieder zu ihren Eltern nach Denver zu gehen. Einerseits, um dieser Stadt und den damit verbundenen Erinnerungen zu entfliehen, andererseits, um sich nicht noch einsamer zu fühlen. Sie war an dem Punkt angelangt, wo es ihr egal war, wer um sie war. Sie wollte nur nicht, dass es Fremde waren.
Die Stimmen klangen hohl, das Apartment hatte seine Wohnlichkeit verloren. Es blieben kahle trostlose Wände zurück. Sarah packte die Teetassen zusammen und warf einen letzten Blick in die Wohnung, in der sie während Danes Klinikaufenthalt gelebt hatte.
Als sie den Schlüssel abzog, hörte sie noch das Telefon. Es klingelte lange. Sie zählte Zehnmal, konnte sich aber nicht vorstellen, wer sie jetzt noch zu erreichen versuchte. Sie ging hinunter zum Wagen und nahm zwischen ihren Eltern im LKW Platz. Jim fuhr in seinem alten Chevy mit Johnathan hinterher.
Der Verkehr war schleichend. Eine letzte Fahrt am Flowers Paradise vorbei. Sarah warf einen kurzen Blick darauf. Sie fühlte plötzlich eine innere Unruhe aufsteigen. Das Geschäft hatte immer noch ihre Dekoration von Weihnachten im Schaufenster, obwohl das Fest längst vorbei war. Es sah wirklich hübsch und ansprechend aus. Ihr Chef hatte Recht, Sarah hatte ein Händchen für Dekorationen.
Im Inneren des Geschäfts herrschte reges Treiben, wie immer. Sie sah die neue Blumenbinderin, das Mädchen mit den langen braunen Haaren. „Sie haben schöne Haare“, hatte Sarah bei der Einstellung zu ihr gesagt. „Die Kunden werden Sie mögen.“ Dann war sie gegangen und das Flowers Paradise um eine Blume ärmer geworden.
Alles begann, sich zu verschleiern. Der Glanz der Lichter aus dem Geschäft versank in ihren Tränen, und sie wischte sie in ein Papiertaschentuch hinein. Als sie wieder hinsah, traf ihr Blick einen Mann auf einer Sitzbank – zufällig ... und wieder nicht – direkt vor dem Flowers Paradise. Er war ziemlich eingeschneit und wirkte steif. Sie sah ihn von hinten: grüne Jacke, schwarze Hose. Dann sah sie sein Profil und erstarrte! Er trug einen Vollbart, aber das Profil! ... die Nase! ... die Haare! ... Gott! Schockiert fuhren ihre Hände vor den Mund! Sie konnte die Ähnlichkeit nicht fassen!
„Was ist, Kind?“, fragte ihre Mutter. Sarah schüttelte verdrossen den Kopf und schloss die Augen. „Nichts, Ma, nichts. Es war nur ... ein Mann auf der Bank ..., es hätte Dane sein können.“
„Es wird Zeit, dass du hier raus kommst, Kind. Du wirst ganz konfus.“ Schützend legte sie ihrer Tochter den Arm um die Schulter und streichelte ihr übers Haar. Erste graue Fäden durchzogen es kaum sichtbar. Sarah fühlte sich sehr müde – genau wie dieser Mann auf der Bank vor dem Flowers Paradise. Müde vom Abschied.
Dane sah den LKW mit dem grünen Nummernschild nicht hinter sich vorbeifahren, jedoch durchzuckte ihn in diesem Moment ein merkwürdiger Schmerz. Er traf nicht nur sein Herz, er traf alles, aber vor allen Dingen seinen Verstand. Der Verstand schickte ihm die Botschaft, jetzt aufzustehen. Es war merkwürdig. Eigentlich hatte er hier gesessen, um nichts mehr zu tun, nur noch die Flocken zu sehen und dann einzuschlafen – für immer. Doch
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