Das blaue Haus (German Edition)
gewesen.
Aber da war zum Beispiel auch Hans gewesen. Hans war einer seiner Fälle gewesen, die ihm unvergessen geblieben waren. Gerade bei Hans, seinem besten Freund, hatten alle Methoden und Therapien nicht angeschlagen. Es war wie eine Ohnmacht gewesen, in die sich Dr. Raimund Geers gerissen fühlte. Das Versagen an seinem eigenen Freund ließ ihn Zweifel an seinen Fähigkeiten hegen.
Hans war damals zu einer unüberwindlichen Mauer geworden, seit er diese kleine Mary totgefahren hatte. Es hatten ihn schlimme Albträume und die Vorwürfe vieler Nachbarn verfolgt, obwohl er das Kind wirklich nicht hatte sehen können, als es vor sein Auto lief. Es hatte nicht die geringste Chance einer Ausweichmöglichkeit gegeben. Sie war einfach hinter dem Haus hervorgekommen, in sein Auto gelaufen und auf der Stelle tot gewesen. Ihr Schädel war bei dem Sturz so unglücklich auf die Straße geschlagen, dass sie einen Schädelbasisbruch mit sofort einsetzenden tödlichen Hirnblutungen erlitten hatte. Hans hatte sofort seinen Führerschein abgegeben und nie wieder die Nähe eines Fahrzeuges gesucht. Doch das hatte ihn nicht vor der Selbstjustiz der Nachbarn bewahrt. Blicke und Gerüchte machten die Runde. Zuerst waren es nur wenige gewesen, doch dann wurden es immer mehr. Und schließlich untersagte ihm auch noch der Besitzer des einzigen preiswerten Discounts im Ort den Einkauf in seinem Laden.
Ragee hatte das alles hilflos mit angesehen und ihm eine kostenlose Therapie angeboten. Aber selbst die hatte ihn nicht vor der Psychiatrie retten können. Hans war böse geworden. Er hatte die Nachbarn plötzlich angepöbelt, Fenster eingeschmissen, Gärten verwüstet und schließlich seinen eigenen Bruder fast mit einem Küchenmesser erstochen. Ragee war der Einzige, der ihn verstanden und nicht als krank angesehen hatte. Böse waren die anderen mit ihrer Feigheit gewesen, die Hans innerlich gelyncht hatten. Ragee hatte schnell erkannt, dass Hans in einer Psychiatrie niemals wieder zu sich kommen würde. Es gab keine Maßstäbe für ein neu integrierbares Leben, nur die des Nochverrückterwerdens und des Medikamentenkonsums.
Mit dem Tag, als Hans in Salina in die Klinik eingeliefert worden war, leerte sich auch Dr. Geers Terminkalender. Er hatte keinen Hehl aus der Ungerechtigkeit gemacht und mit schweren Vorwürfen gegen sämtlichen Verursacher reagiert. Das Böse lag selten in den Opfern. Die Einstellung kostete ihn schließlich seinen Job, nicht aber seine Frau und nicht seine Pflegetochter. Die Zeit brachte es mit sich, als Hans schon lange tot war, dass die ersten Nachbarn ihn wieder anlächelten und sogar ein freundliches „Hy“ von der anderen Straßenseite herüberriefen. Ragee wurde ruhiger. Er wollte keinen weiteren Zank. Er grüßte zurück, er war leer. Irgendwann erlangte er wieder seinen alten Respekt zurück. Er wusste nicht warum, aber es gab ihm nicht den Job zurück. Er wollte ihn auch nicht mehr.
Dann, vor drei Monaten, hatte dieser Artikel in der Zeitung gestanden – von diesem Psychopathen aus Valley Falls. Ragee hatte sich wieder sehr einsam gefühlt und sich nach dem ersten Artikel einen Plastikordner gekauft. Er wusste, dass noch viele Artikel folgen würden. Mit Schere und Folie fand jeder Bericht über Dane Gelton seinen Platz in dem Ordner und Dr. Geers eine neue Aufgabe. Er begann, zerschnittene Zeitschriften neben seinem Schreibtisch auf dem Boden zu stapeln. Er hatte Hans wiedergefunden. Zwar um einiges extremer, aber es war Hans – eindeutig. Ragee las zwischen den Zeilen der vielen Lügen und Übertreibungen das Leben eines Opfers heraus und war fest entschlossen, diesen Gelton nach Weihnachten einmal zu besuchen. Sogar zwei Fotos hatte man abgebildet. Es waren Fotos aus einer alten Zeitung aus Kalifornien von 1978. Alte Fotos von Dane, als er dreiundzwanzig Jahre alt gewesen war. Doch er war äußerlich unverkennbar der Gleiche geblieben.
Ragee hatte enttäuscht seinen Plastikordner zugeklappt, als er am 20. Dezember in der Zeitung von Dane Geltons Tod erfuhr. Er hatte die Akte nicht verklebt, wie er es sonst immer mit erledigten Fällen tat, um nichts zu verlieren. Der Ordner lag noch bearbeitungsbereit neben seinem Schreibtisch auf dem Zeitungsstapel. Es war noch nicht das richtige Ende geschrieben worden.
Ragee begann, eine Woche später, vor Enttäuschung und Langeweile sein Haus zu streichen und brach sich dabei den Arm.
Heute lag sein unverschlossener Fall auf seinem Zimmer – unverkennbar Dane
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