Das blaue Haus (German Edition)

Vater.“
„Mit wem dann?“ Dane zügelte nur schwer seinen Zorn. Was wollte der Alte von seiner Mutter?
„Weißt du eigentlich, wie viele Menschen es auf der Welt gibt, die als Kinder nie das Reden gelernt haben, weil mit ihnen nie geredet wurde? Denen niemals beigebracht wurde, was falsch und was richtig ist?“
„So, und du meinst, das hätte alles verhindert? Ha!“
Wieder herrschte das Schweigen zwischen ihnen. Dane zuckte nervös mit seinen Augenlidern.
„Hör zu, Dane, ich will dir etwas sagen: Für ein Kind kann es nichts Schlimmeres geben, als zu schweigen, gerade über Dinge, mit denen es nicht fertig wird. Deine Mutter hätte dir vielleicht nicht die körperlichen Schmerzen nehmen können, wenn sie weiter mit deinem Vater zusammenbleiben wollte, aber sie hätte dir die seelischen Qualen nehmen können, dich von deiner Schuld befreien, indem sie dir sagte, dass es falsch war, was dein Vater machte, dass du richtig fühltest, wenn du Ekel empfandst. Das hätte dir den Weg gewiesen. Einen Weg, unter Umständen mit ihr gemeinsam aus diesem Dilemma herauszufinden. Da wäre das Mindeste gewesen. Jede verantwortungsvolle Mutter vollzieht sofort eine Trennung und bringt sein Kind in Sicherheit. Auch in den sechziger Jahren. Aber sie hat dir die ganze Schuld gelassen; sie hat dich daran ersticken lassen, bis du angefangen hast, zu verdrahten, um sie nicht ganz zu verlieren.“
Dane schwieg. Die Flammen im Kamin hatten sich wieder beruhigt. Er schloss die Augen und sagte: „Glaubst du, dass meine Mutter mich geliebt hat? Sag mir, dass sie mich geliebt hat.“ Dane ließ sein Gesicht in beide Hände versinken.
Ragee antwortete leise: „Das kann ich nicht. Verantwortung, Vertrauen und Liebe gehen nicht den Weg des Wegschauens; es geht den Weg des Kampfes und der Ehrlichkeit.“
„Es hört sich jetzt alles so anders an. Du verdrehst die Tatsachen derart, dass sie andere Wahrheiten ergeben!“
„Es ist alles anders gewesen. Anders, als du es dein Leben lang gedacht hast. Wie kann ein Kind lernen, das Richtige zu tun, wenn es das nie vorgelebt bekommt? Wie kann ein Kind ein selbstständiger Mensch werden, wenn man es nicht lehrt, was eine falsche Schuld ist? Weißt du, wie viele Menschen mit falschen Schuldgefühlen in der Welt herumlaufen, sich alles und jedes zu Herzen nehmen, an dem sie überhaupt keine Schuld haben? Ihnen ist niemals beigebracht worden, dass auch die anderen Schuld zu tragen haben, dass das eigene Gefühl für das Richtige meist das einzig Wahre ist. Die Menschen laufen mit unehrlichen Antworten herum, handeln ständig gegen ihre eigenen Gefühle und fühlen sich dann auch noch schuldig dafür, dass sie nicht die Wahrheit gesagt haben, denn die Wahrheit könnte ja den Anderen verärgern oder verletzen! Was ist mit der eigenen Verletzung? Was tust du dir an, wenn du schweigst und die Unwahrheit erträgst? Wie viele Menschen tun Dinge, die sie eigentlich nicht tun wollen? Sie haben als Kind nicht die Ermutigung erfahren, sich ehrlich und offen durchzusetzen oder sich einfach zu widersetzen. Sie sitzen dann ihr ganzes Leben lang auf ihrem Schuldgefühl, plagen sich mit Depressionen herum und landen bei Psychiatern, wie ich es einmal war. Was mache ich dann mit diesen Menschen? Wie kann ich ein jahrelanges Schuldgefühl aus ihnen herausbekommen, das sich so unglaublich gefestigt hat, dass es kaum möglich ist? Es funktioniert nur über die Einsicht, dass nicht sie die Schuldigen sind. Doch sie ertragen lieber die eigene Lüge und das Schweigen – ein Leben lang. Und sie sterben unglücklich, weil sie eine falsche Welt um sich herum aufgebaut haben – eine Welt des Wegschauens, der Passivität und des Schweigens. Eine Welt, wie sie deine Mutter sich aufgebaut hat. Vielleicht hat sie es von ihren Eltern auch nicht anders gelernt. Aber es war an der Zeit, das Schweigen zu brechen. Spätestens in dem Moment, in dem sie bemerkte, dass mit deinem Vater etwas nicht stimmte. Doch sie hat weiter geschwiegen. Du hast das Schweigen von ihr gelernt – über dich und deine Gefühle. Du trägst Gift in dir! Es ist an der Zeit, dass du es ausspuckst.“
Dane sah auf. Sein Gesicht war rot gerieben und erschöpft. Er sah in die Augen des alten Mannes und sagte: „Aber sie hat sich auch schuldig gefühlt.“
„Du suchst immer noch nach Entschuldigungen für deine Mutter. Verdammt! Begreifst du denn nicht, worüber wir reden? Sie hat nie mit dir über deine Angst geredet, Dane, über das, was dein Vater mit