Das blaue Haus (German Edition)
dir und deinen Brüdern getan hat – es nicht einmal versucht, geschweige denn, es zu ändern! Das war ihre größte Schuld! Nur ein Gespräch und du hättest vielleicht ein anderes Gefühl haben können und gemerkt, dass es so nicht in Ordnung war. Du hast nur von falschen Gefühlen, Täuschungen und Lügen gelebt, von Verdrahtungen und Theater. Du hättest all die Verdrahtungen nicht gebraucht. Was ist das für eine Liebe zu einem Kind, die sich nicht zeigt?“
„Sie konnte nicht mit mir darüber reden!“, schrie nun auch Dane wieder, und Ragee begann zu zittern. Seine Stimme wurde brüchig: „Dane, hör doch auf! Sie war erwachsen! Du warst ein Kind! Ein Kleines noch dazu! Sie hätte es tun müssen! Es wäre sogar dein Recht gewesen, sie deswegen zu hassen, doch sie war für dich die Einzige ...“, der Alte hielt inne, „ ... die dich nicht anfasste.“
Schweigen.
„Warum hat ihre Liebe genau in dem Moment geendet, als du sie am dringendsten brauchtest? Sag es mir?“
„Ich weiß es nicht!“
„Doch, du weißt es! Du trägst es auch in dir. Genau wie sie!“
„Was?“
„Die Angst, es könnte alles noch viel schlimmer kommen, wenn du etwas sagst oder dich wehrst! Schlimme Gefühle, die dich dein ganzes Leben lang schon begleitet haben, verstärkt durch dieses zerstörerische Schweigen!“
Dane fühlte sich entsetzlich aufgewühlt, aber er schwieg. Ihm fehlten die Worte, wie ihm so vieles plötzlich fehlte. Ragee hatte soeben seine schmerzlichste Wurzel freigelegt: schlimme Gefühle. Er wusste es schon lange – tief in sich drin, doch wer will schon in sich hineinsehen? Sein Leben war nichts anderes als ein endloser Betrug gewesen.
„Was ist mit den anderen Dingen, die ich in meinem Leben getan habe?“, kam es Dane in den Sinn.
„Was meinst du?“, fragte Ragee und sah auf seine Armbanduhr. Es war genug für heute.
„Die Sache mit meinem Vater, als wir uns zu bekämpfen begannen. Wo waren da meine Schuldgefühle?“
„Dane, das ist eine ganz andere Geschichte. Es ist nicht gut, wenn wir heute auch noch darüber sprechen. Ich möchte dir etwas für die Nacht mitgeben. Es ist schwer zu verstehen, aber du wirst es begreifen, wenn du nur genau zuhörst und darüber nachdenkst. Lerne das Zuhören und das Nachdenken. Hör zu: Die Schuld birgt das Schweigen in sich, und das Schweigen ermöglicht die Perversion. Deine Mutter hat dich das Schweigen gelehrt, dein Vater hat dir ein Gefühl für die Perversion gegeben. Du bist das Ergebnis deiner Eltern. Es ist an der Zeit, darüber zu reden und Hilfe zuzulassen. Lerne, dich zu verstehen und dich zu verändern, denn ohne das hast du keine Chance mehr in dieser Welt.“
Der erste Tag im blauen Haus ging zu Ende.
„Wo schlafe ich?“, fragte Dane. Er war wirklich müde.
„Zuvor unsere Übung für den Abend. Ich frage dich: Was hat dir heute besonders gut gefallen? Verstehe meine Frage richtig.“
„Das Feuer“, sagte Dane spontan.
„Gut“, sagte Ragee zufrieden. So sollte es das Feuer sein, das sie so unermüdlich über die Stunden begleitet hatte. „Und nur das sollte dich in dein Bett begleiten. Morgen früh überlegst du dir direkt nach dem Aufwachen, auf was du dich morgen wirklich freust.“
Der Alte ging die Treppe voran und kam in einen kleinen Flur mit zwei verschlossenen Türen. Er öffnete die linke Tür und wies Dane hinein. Julie hatte alles hergerichtet.
„Tut mir leid, ich habe kein anderes für dich. Gute Nacht, Dane“, waren Ragees letzten Worte für heute, und er schlurfte müde in das andere Zimmer.
Dane erkannte sofort, dass es Julies Zimmer gewesen sein musste. Es befand sich nicht nur ihr Temperament darin, auch ihr Duft schien sich in den Wänden festzukrallen. Dane versuchte, es zu verdrängen und dachte an das Feuer, an Ragee und an das Vertrauen, das er ihm an diesem Abend entgegengebracht hatte. Er schlief in seiner Kleidung auf dem Bett ein, denn er wollte nicht zu Julie unter die Decke.
In dieser Nacht zog ein starker Sturm auf. Er drückte gegen die Fensterscheiben und ließ das alte Holz gespenstig knarren. Zuerst nahm Dane es in weiter Entfernung wahr, dann jagte es ihn schweißgebadet in die Höhe. Ein Kind!, dachte er. Ich bin kein Kind mehr! Schatten tanzten im Zimmer umher. Die Kiefer vor seinem Fenster bog sich stark in den Wehen des Windes. Schnee fiel hinab und wehte im Pfeifen des Sturmes umher. Unzählige Eisblumen malten sich auf die Fensterscheibe. Dane sah sich im Zimmer um. Es war ihm so fremd. Julie Welt,
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